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Russland sollte jetzt sofort einen Waffenstillstand ausrufen
Russland sollte jetzt sofort einen Waffenstillstand ausrufen
Alle beteiligten Parteien müssen jetzt auf einen sofortigen Waffenstillstand im Ukrainekrieg drängen. Ein umgehendes Ende des Tötens hat das oberste Ziel zu sein. Das darf nicht durch Verweis auf angeblich noch „zwingend für einen dauerhaften Frieden notwendige“ militärische Maßnahmen verwässert werden. Dieses Gerede ist von beiden Seiten zurückzuweisen. Den Krieg mit Verweis auf „höhere Güter“ noch weiter in die Länge zu ziehen, obwohl es eine Chance auf eine Waffenruhe und darauf aufbauende Verhandlungen gäbe, ist nicht zu rechtfertigen. Ein Kommentar von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Man konnte der Ukraine und ihren westlichen Unterstützern lange vorwerfen, dass sie an einer Waffenruhe und an Verhandlungen nicht interessiert waren. Entsprechende Forderungen wurden von dieser Seite als „russisches Narrativ“ von Putins nützlichen Idioten diffamiert. Vor kurzem träumten schließlich westliche Strategen noch vom Sieg über die russische Armee, sie wollten mutmaßliche taktische Vorteile der Ukraine nicht gefährden und sie wollten Russland nicht durch eine Waffenruhe die Möglichkeit zur Auffrischung des Nachschubs etc. geben. Ein ähnliches Motiv unterstelle ich nun der russischen Führung für das ablehnende Verhalten gegenüber einem möglichen, von den USA vermittelten Waffenstillstand. Damals wie heute ist diese aus taktisch-militärisch-geopolitischen Gründen erfolgende Kriegsverlängerung scharf abzulehnen, auch von russischer Seite. Denn dadurch sterben weiter Menschen in einem sinnlosen Krieg. Ein provozierter Krieg Der Ukrainekrieg wurde von westlicher Seite vorsätzlich von einem Regionalkonflikt zu seinen jetzigen Ausmaßen aufgeladen. Der Krieg wurde vor 2022 vor allem von US-Seite hart provoziert – man wusste, dass durch bestimmte geopolitische Zuspitzungen von westlicher Seite ein militärisches Eingreifen aus russischer Sicht (!) irgendwann „unausweichlich“ erscheinen würde. Die Unterstützung von westlicher Seite zuerst für einen gewaltsamen Umsturz und danach für eine Regierung in Kiew, die seit 2014 den Donbass angegriffen hat und selbst massiv aufrüstete, dieses Verhalten hat den Krieg mit ausgelöst. Alle dominanten Machtgruppen im Westen haben auf den Krieg hingearbeitet: Mit einer Russland einschließenden Sicherheitsarchitektur und mit Verzicht auf die Aufrüstung einer aggressiven und ultranationalistischen Gruppe in der Westukraine hätte es den Krieg nicht gegeben. Aber: Durch die Vorgeschichte rechtfertigen sich meiner Meinung nach nicht automatisch der drastische Schritt des russischen Einmarschs oder pauschal die Handlungen, die seither vollzogen wurden – nicht von ukrainischer, aber eben auch nicht von russischer Seite. Auch wenn die Floskel vom „unprovozierten Angriffskrieg“ geschichtsloser Nonsens ist, so ist doch auch ein „provozierter“ Krieg scharf zu kritisieren. Jede Chance, das zu beenden, muss ergriffen werden. Und sei es nur kurz: Jeder einzelne Tag, an dem eine Waffenruhe halten würde, wäre dabei sehr zu begrüßen. Westliche Heuchelei um Waffenruhen Die doppelten Standards von jetzt plötzlich nach einem Waffenstillstand rufenden Journalisten und Politikern, die vorher eine Waffenruhe diffamiert haben und sie verhindern wollten, solange sie nicht der Ukraine militärisch genutzt hätte, hat Jens Berger gerade in dieser Glosse beschrieben. Man kann die aktuelle Situation, in der sich westliche Journalisten und Politiker urplötzlich zu Pazifisten gewandelt haben, zutreffend als Heuchelei und auch teilweise als Inszenierung einordnen – als eine Inszenierung, bei der die jahrelangen Kriegstreiber und Kriegsverlängerer und jene, die die ersten Verhandlungen von Istanbul torpediert haben, jetzt mit Forderungen nach einem Waffenstillstand glänzen können. Das ändert aber nichts daran: Russland liefert durch die Nichtakzeptanz der Waffenruhe und durch die gleichzeitigen schweren Angriffe momentan eine Steilvorlage genau dafür und es wird zu Recht kritisiert, denn Kriegsverlängerung ist von keiner Seite zu rechtfertigen. Titelbild: bella1105 / Shutterstock
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„Denken Sie daran, Putin versteht Deutsch“ – ZDF-Gespräch mit Spahn als Anschauungsmaterial journalist
„Denken Sie daran, Putin versteht Deutsch“ – ZDF-Gespräch mit Spahn als Anschauungsmaterial journalist
„Denken Sie daran, Putin versteht Deutsch, der schaut deutsche Nachrichten“ – das sagte Jens Spahn im ZDF-Morgenmagazin. Das Gespräch mit dem CDU-Politiker drehte sich um die Aufhebung der Reichweitenbegrenzung jener Waffen, die Deutschland an die Ukraine liefert. Eine Kurzanalyse. Von Marcus Klöckner. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Jens Spahn ist zu Gast im ZDF-Morgenmagazin. Die in fragt den CDU-Politiker, ob die von Merz ausgesprochene Aufhebung der Reichweitenbegrenzung von Waffen, die Deutschland an die Ukraine liefert, bedeute, dass nun auch Taurus-Raketen geliefert werden. Spahn antwortet: Entscheidend ist ja erstmal grundsätzlich: Wir unterstützen die Ukraine, die sich verteidigt, aber auch unsere Freiheit verteidigt gegen den russischen Kriegstreiber Putin. Wir unterstützen die Ukraine mit allem, was sie braucht, und das was sie erhält, kann sie auch entsprechend einsetzen – da haben wir Vertrauen. Ich glaube, es ist nicht sinnvoll, über einzelne Waffensysteme – sei es in Deutschland, sei es im westlichen Bündnis – öffentlich zu reden. Es ist gut, wenn Putin im Unklaren darüber ist, was wir liefern und auch was, wann, wie, wo genutzt werden kann. Eva-Maria Lemke: Das heißt: Es könnte auch eine stille Lieferung des Taurus-Systems geben? Spahn: Das ist jetzt ein guter Versuch. Verstehe ich ja, das Interesse. Aber gerade in Fragen von Krieg und Frieden – und das machen wir anders als die Ampel – sollten wir das nicht öffentlich austragen. Denken Sie daran, Putin versteht Deutsch. Der schaut deutsche Nachrichten, vielleicht sogar das Morgenmagazin – das meine ich so – er weiß mehr, als er wissen sollte durch unsere öffentlichen Debatten der letzten 4 Jahre in diesen Fragen, und deswegen ist es gut und wichtig, dass wir es nicht öffentlich austragen. Eva-Maria Lemke: Das verstehe wiederum ich auch … andererseits gibt es natürlich auch ein großes öffentliches Interesse daran. Immerhin ist damit verbunden, dass Deutschland Kriegspartei wird – so zumindest sieht es die SPD. Es bedeutet auch, dass Bundeswehrsoldaten beispielsweise zu Schulungen in die Ukraine müssten. Also das würde doch bedeuten, dass die deutsche Öffentlichkeit das erfahren sollte, oder? Spahn: Deutschland wird nicht Kriegspartei, die NATO wird nicht Kriegspartei. Das ist klar. Das ist ja auch klar gesagt. Gleichzeitig sind wir nicht neutral in diesem Konflikt. Man muss daran erinnern: Putin überfällt sein Nachbarland. Seine Armee, seine Soldaten plündern, rauben, morden, vergewaltigen (…). Es ist Putin, der keinen Frieden will. (…) Eva-Maria Lemke: Trotzdem, die Aussage von Merz, das einmal festzustellen und dann als sowieso ja schon bekannt hinzustellen – das wurde auch in Russland registriert. Das Interview geht nach dieser Stelle noch rund 3 Minuten. Besser wird es nicht. Zum Vorschein kommt, was nahezu durchgängig in allen Interviews des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu beobachten ist: Wo dringend und zwingend ein kritisches Nachhaken angebracht wäre, bietet der ÖRR ein Podium für politische Propaganda. Anstatt die Verdrehungen von Spahn geradezurücken und die Aussagen zu dekonstruieren, kommt journalistische Untertänigkeit zum Vorschein. Schon der erste Satz: „Entscheidend ist ja erstmal grundsätzlich: Wir unterstützen die Ukraine, die sich verteidigt, aber auch unsere Freiheit verteidigt gegen den russischen Kriegstreiber Putin“, schreit nach einem journalistischen „Halt!“. 1. Bei Hunderttausenden von toten, verstümmelten und traumatisierten Soldaten ist der Gebrauch des Begriffs „Unterstützung“ eine politisch beschönigende Formulierung, der ein Journalist nicht folgen sollte. 2. Der Teilsatz „aber auch unsere Freiheit verteidigt“ ist reine politische Propaganda. Die Ukraine „verteidigt“ nicht „unsere Freiheit“ – allenfalls so, wie unsere Freiheit angeblich auch am Hindukusch (Afghanistan) verteidigt worden sein soll (Aussage des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck). Die Aussage Spahns ist Teil politischer Propaganda, sie dient dazu, unfassbare Summen für die Ukraine und zur Aufrüstung Deutschlands zu legitimieren. Ob Spahn an diese Aussage selbst glaubt, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Als Journalist in einem Interview darf man sie nicht stehenlassen. Die Formulierung „Kriegstreiber Putin“ bringt eine propagandistisch aufgeladene Schärfe in das Gespräch. Putin wird dämonisiert. Die Aussage erweckt den Eindruck, es gehe im Sinne eines Protokolls darum, mindestens einmal bei einem Auftritt eines Politikers Putin als Kriegstreiber zu bezeichnen. Sicherlich: Wer einen Krieg anfängt, darf auch als Kriegstreiber bezeichnet werden – ein Journalist sollte aber den Versuch der Stimmungsmache durchschauen und darauf hinweisen, dass es nach über drei Jahren Krieg, einer großen Zahl menschlicher Opfer eigenartig anmutet, wenn sprachlich nicht abgerüstet wird, da doch – angeblich – die Diplomatie bemüht werde. Säßen Spahn und anderen Politikern Journalisten gegenüber, die sofort reingrätschten und die politische Propaganda nicht einfach hinnähmen: Die Gespräche würden völlig anders verlaufen, das heißt, wenn sie überhaupt stattfänden und Politiker mit heruntergerissener Maske nicht das Studio verlassen würden. Auch die folgenden Aussagen Spahns müssten dekonstruiert werden. Ich glaube, es ist nicht sinnvoll, über einzelne Waffensysteme – sei es in Deutschland, sei es im westlichen Bündnis – öffentlich zu reden. Es ist gut, wenn Putin im Unklaren darüber ist, was wir liefern und auch was, wann, wie, wo genutzt werden kann. Hier müsste von journalistischer Seite die Anmerkung kommen, dass es für Deutschland eine enorme Gefahr birgt, wenn in einem solchen Krieg „Unklarheit“ herrscht. Was wäre, wenn Russland Deutschland als Kriegspartei betrachten und gegebenenfalls entsprechend handeln würde? Doch überhaupt: Vonseiten der in wäre zu fragen gewesen, welchen Sinn das gesamte Vorgehen überhaupt ergibt. Auch wenn eine Politik der Geheimhaltung praktiziert wird: Keine Waffenlieferungen – auch nicht Taurus – dürften dazu führen, dass Russland seine Ziele aufgibt. Das ist schlicht logisch in Anbetracht dessen, worum es Russland geht. Hinzu kommt, wie wir alle wissen: Die Eskalationsdominanz liegt bei Russland. Unterm Strich setzt Deutschland auf eine Strategie, die seit über 3 Jahren verfolgt wird – und nicht „erfolgreich“ war. Spahns Aussage, dass Putin Deutsch spreche und es auch deshalb angebracht sei, nicht öffentlich über Waffenlieferungen zu sprechen, offenbart die unterirdische „Qualität“ seiner „Argumentation“. Also ob Russland auf die Deutschkenntnisse seines Präsidenten angewiesen wäre, um mitzubekommen, welche politische Weichen in Deutschland gestellt werden. Erneut fokussiert Spahn auf die Person Putin, reduziert damit Komplexität und verzerrt so zugleich die Realität. Dass Lemke die Gefahr anspricht, Deutschland könnte Kriegspartei werden, ist gut. Ebenso richtig ist es, dass sie ausspricht, dass die deutsche Öffentlichkeit ein Recht darauf habe, zu erfahren, was in Sachen Ukraine-Politik iert. Allerdings: Das „kritische“ Nachfragen ist schwach, ja: geradezu gefällig. Der übliche Anstrich der Scheinkritik kommt zum Vorschein. Die Kritik wird so zart vorgetragen, dass es ein Leichtes für Spahn ist, mit ihr umzugehen. Auch den folgenden Aussagen setzt die Interviewerin nichts an kritischem Journalismus entgegen: Deutschland wird nicht Kriegspartei, die NATO wird nicht Kriegspartei. Das ist klar. Das ist ja auch klar gesagt. Gleichzeitig sind wir nicht neutral in diesem Konflikt. Man muss daran erinnern: Putin überfällt sein Nachbarland. Seine Armee, seine Soldaten plündern, rauben, morden, vergewaltigen (…). Es ist Putin, der keinen Frieden will. (…) Die Coronaimpfungen haben keine Nebenwirkungen, Deutschland wird nicht Kriegspartei. Politiker schmeißen mit Aussagen nur so um sich – Journalisten nehmen sie hin. Ob Deutschland Kriegspartei wird oder nicht, hängt nicht von der Beurteilung Spahns ab. Wenn Russland sagt: „Deutschland ist Kriegspartei“, dann spielt es keine Rolle, ob Politiker in Deutschland die Sachlage anders einschätzen. Vonseiten der in müsste zwingend angesprochen werden, dass deutsche Politiker durch ihre Politik Bürger der Kriegsgefahr aussetzen. General a.D. Harald Kujat sagte vor einiger Zeit in einem Interview mit der Weltwoche zum Thema Taurus Folgendes: „Das heißt, wir machen den Schritt von der indirekten Kriegsbeteiligung zur direkten Kriegsbeteiligung. Wer das nicht versteht, der hat es nicht verdient, irgendein politisches Amt auszuüben. Und wer dann trotzdem sagt: ‚Wir machen das (…)‘, der gehört eigentlich aus der Politik zurückgezogen.“ Dieses Wissen, diesen Stand der Debatte, muss eine Journalistin, die zu dem Thema ein Interview führt, kennen – und konstruktiv bei ihren Fragen einbringen. Als Spahn sagt, dass wir nicht „neutral in diesem Konflikt“ seien, wäre anzuführen gewesen, dass es sich bei dem Krieg in der Ukraine auch um einen Stellvertreterkrieg handelt. Auch hier gilt wieder: Eine Journalistin, die ein Interview zum Ukraine-Krieg führt, muss das wissen – entsprechend kritische Fragen sollten eine Selbstverständlichkeit sein. Würde Lemke klar ansprechen, dass ein Stellvertreterkrieg geführt wird, entstünde ganz schnell eine andere Diskussion. Lemke unterlässt dies jedoch. Das ist journalistisch unvertretbar. Stattdessen kann Spahn nochmal ausholen zur Dämonisierung Putins. Dass in Kriegen nahezu immer alle involvierten Parteien grausam agieren, ist eine Binse, die sich auch bis zur Redaktion des Morgenmagazins herumgesprochen haben sollte (man denke nur an das Agieren der „guten“ Tiger Force in Vietnam). Schandtaten in Kriegen anzuprangern und zu verurteilen, ist wichtig – es einseitig zu tun, ist Propaganda. Auch die letzte hier angeführte Aussage von Spahn, wonach es Putin sei, der keinen Frieden will, ist als politische Propaganda zu identifizieren. Von russischer Seite ist immer wieder zu hören, dass sich um Frieden bemüht werde, wie etwa der aktuelle Vorschlag Russlands für ein Treffen am 2. Juni zeigt. Zusammengefasst: Ein 5-minütiges Interview bietet Anschauungsmaterial dafür, wie die Verbindung zwischen politischem Tiefflug und „journalistischer“ Beißhemmung aussieht. Auf der einen Seite Propaganda, auf der anderen Seite Zurückhaltung, Gefälligkeit und Ignoranz. Titelbild: Screenshot ZDF
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„Nur eine Erkältung“ – die deutschen Medien und ihre Fehldiagnose zu Bidens geistigem Zustand
„Nur eine Erkältung“ – die deutschen Medien und ihre Fehldiagnose zu Bidens geistigem Zustand
Es kann nicht sein, was nicht sein darf. So lässt sich die Position der meisten großen deutschen Medien zum offensichtlich prekären geistigen Zustand von Joe Biden während der heißen Phase des US-Präsidentschaftswahlkampfes im Frühjahr 2024 beschreiben. Vor allem die Nachrichten- und Faktencheckerformate der Öffentlich-Rechtlichen beschwichtigten und relativierten die Aussetzer Bidens und rückten Kritik in die Nähe von Schmutzkampagnen des Trump-Lagers. Nun rückt ein Buch amerikanischer Journalisten die auch in vielen US-Medien vorherrschende Fehleinschätzung zurecht und auch deutsche Medien wie der SPIEGEL steigen in die Medienkritik ein – sie kritisieren wohlgemerkt US-Medien und verlieren kein Wort der Selbstkritik. Es kann halt nicht sein, was nicht sein darf. Von Jens Berger. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Es gibt ja Menschen, die liegen mit ihren Einschätzungen verlässlich so falsch, dass sie auf skurrile Art und Weise tatsächlich Orientierung geben – man kann halt davon ausgehen, dass das exakte Gegenteil ihrer Einschätzung zutreffen dürfte. Ein solcher Mensch ist Elmar Theveßen, seines Zeichens seit 2019 Leiter des ZDF-Studios in Washington, ein sogenannter „USA-Experte“ wie aus dem Bilderbuch und gleichzeitig Stammgast im ZDF-Talk von Markus Lanz. 2024 war Theveßen der am häufigsten eingeladene Talkshowgast Deutschlands. Hat man Theveßen im Frühsommer 2024 nach dem – damals sogar von US-Demokraten sehr kritisch hinterfragten – geistigen Gesundheitszustand von Joe Biden gefragt, tat er jeglichen Zweifel als „Schmutzkampagne des Trump-Lagers ab“ und bescheinigte Biden gar „geistig topfit“ und „voll in der Lage“ für das Amt zu sein; wenige Tage später wurde Biden aufgrund seiner mentalen Defizite gegen seine bisherige Vize-Kandidatin Harris ausgetauscht. Bis auf kleinere Relativierungen gab es bis heute keine Erklärung von Theveßen, wie genau er zu dieser grandiosen Fehleinschätzung kam. Dass Theveßen Trump nicht mag und ein großer Fan der demokratischen Kandidaten Biden und Harris ist, ist hinlänglich bekannt. Bekannt ist auch, dass seine politischen Vorlieben häufiger mal sein Urteilsvermögen vernebeln. So schwadronierte Theveßen beispielsweise noch am Ende der Wahlnacht, als Fox Trump bereits zum Präsidenten ausgerufen hatte und selbst die liberale New York Times die Chancen auf einen Harris-Sieg auf unter 10 Prozent heruntergestuft hatte, davon, dass die Flut an roten Staaten „zwar ein Warnzeichen [für Harris] sei“, es aber „immer noch gut sein [könne], dass sie gewinnt“. Auch hier war wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Theveßens grotesker Bias ist jedoch nicht seine Privatsache, sondern ein professionelles Problem. Die Öffentlich-Rechtlichen haben schließlich einen Sendungsauftrag, objektiv zu berichten. Und Theveßens Einschätzungen sind nicht nur falsch, sondern im höchsten Grade subjektiv. Seine Fehleinschätzung zu Bidens geistiger Gesundheit ist dabei nur die Kirsche auf der Sahnehaube. Aber es war ja nicht nur Elmar Theveßen, der sich bei der Berichterstattung zu Bidens geistiger Gesundheit nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat. Eine aktuelle Analyse der Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformate und einiger großer Medien, wie des SPIEGEL, kommt zum wenig schmeichelhaften Urteil, dass die Öffentlichkeit durch die Bank weg schlecht informiert wurde. Anstatt die offensichtlich prekäre geistige Gesundheit Bidens offen anzusprechen, folgte man den Beschwichtigungen des Biden-Lagers. Mal war der Kandidat „erkältet“, mal habe er „zu wenig geschlafen“, der Termin für die Debatte sei halt ein wenig spät am Abend oder er habe halt schlicht „einen schlechten Abend erwischt“. Es darf halt nicht sein, was nicht sein kann. Man könnte es auch Desinformation nennen. Insbesondere Tagesschau und Heute gaben mit Vorliebe beschwichtigende Aussagen des Bidens-Lagers unhinterfragt als Fakten wieder und rückten Zweifel daran in die Nähe von „politisch motivierten Übertreibungen“ aus dem Trump-Lager. Vor allem die Faktenchecker-Redaktionen von Tagesschau und Heute bekleckerten sich dabei nicht mit Ruhm, ordneten sie doch – wie so oft – die Aussagen offizieller Quellen als objektive Wahrheiten ein. Dass die Leibärzte und Sprecher Bidens in Fragen zu seinem geistigen Gesundheitszustand jedoch befangen sind, sollte eigentlich klar sein. Und spätestens heute wissen wir ja auch, dass nicht die Kritik an Bidens geistiger Gesundheit, sondern die Beschwichtigungen von offizieller Seite „politisch motiviert“ waren. Auf eine Distanzierung oder gar Entschuldigung für die eigene Falschberichterstattung warten wir bis heute vergebens. Als das Kind in den Brunnen gefallen war, Biden sich in der Fernsehdebatte mit Trump einmal zu oft derangiert und verwirrt zeigte und die Demokraten nun endlich den Kandidaten austauschten, vollzogen auch die deutschen Medien die Kehrtwende und vergaßen ihre eigenen Beschwichtigungen und Fehldeutung von einem Tag auf den anderen. Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Kann es sein, dass die deutschen Medien nicht nur bei der Einschätzung von Bidens geistiger Gesundheit dramatisch falsch lagen? Kann es sein, dass sie auch ihre Leser und Zuschauer für senil und vergesslich halten? Titelbild: Screenshot ZDF
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Denkfaule Politiker: Knickt die Wirtschaft ein, muss der Deutsche arbeitsmüde sein
Denkfaule Politiker: Knickt die Wirtschaft ein, muss der Deutsche arbeitsmüde sein
Armes Deutschland. Der Standort ist schlapp, der russische Gashahn zugedreht, horrende Lebenshaltungskosten, immer mehr Firmenpleiten und steigende Arbeitslosigkeit drücken auf die Stimmung. Wer ist Schuld an allem? Ganz klar: Die Beschäftigten, die einfach nicht die nötige Leistungsbereitschaft zeigen. Helfen kann da nur noch mehr Arbeit, bei noch weniger Geld, denkt der Bundeskanzler und setzt verbal auf noch mehr Spaltung nach dem Motto: Work-Life-Balance ist was für Drückeberger. Über eine kranke und krankmachende Debatte schreibt Ralf Wurzbacher. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Der Bundeskanzler hat gesprochen. „Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, findet Friedrich Merz (CDU) und: „Mit Viertagewoche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“ Gesagt hat er dies Mitte Mai beim CDU-Wirtschaftstag und damit, wie es so schön heißt, einen Nerv getroffen. Autsch! Aber der Schmerz hört nicht auf. Dieser Tage bohrte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann nach: Man habe „manchmal den Eindruck, dass es nicht mehr um Work-Life-Balance geht, sondern um Life-Life-Balance“. Gerade für junge Menschen sei es wichtig, „erstmal eine Ausbildung zu machen und einen Beruf zu erlernen. Da müssen wir wieder hinkommen: Sich etwas selbst zu erarbeiten.“ Damit ist der Ton gesetzt: Die Deutschen sind einfach zu bequem geworden, zu selbstbezogen, ohne Sinn fürs Große und Ganze, das da lautet: Was kannst Du für Dein Land tun? Nicht nur zu seiner Verteidigung, auch auf dem Arbeitsmarkt. Vor allem der Nachwuchs frönt dem Schlendrian, also die sogenannte Generation Z der nach 1995 Geborenen. Die wollen es sich nur gutgehen lassen, haben mit Leistung nichts am Hut und setzen mit ihrer Faulheit die Zukunft der Republik aufs Spiel. Wie es der Zufall will, hat die Koalition die „richtigen“ Rezepte schon im Köcher, sprich im Koalitionsvertrag: Steuerfreie Überstundenzuschläge, Anreize, um Teilzeitbeschäftigung zu überwinden, eine Aktivrente für die, die über das gesetzliche Regelaltersgrenze hinaus weiterarbeiten, und natürlich die Ablösung des Acht-Stunden-Tages durch „eine wöchentliche Höchstarbeitszeit“. Zugleich dreht sich die Kampagnentrommel immer schneller. Umfragen werden lanciert, wonach eine Mehrheit der Bevölkerung Lust auf Mehrarbeit hat. Die Wissenschaft liefert die enden Befunde, etwa den, dass jene, die lange arbeiten, nicht erschöpfter, ungesünder und gestresster sind als Teilzeitkräfte. Deshalb: „Um unseren Wohlstand zu sichern, müssen wir längere Arbeitszeiten wieder attraktiver machen.“ Freilich darf auch der Vergleich mit den deutschen Wettbewerbern nicht fehlen. Wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ermittelt haben will, belegen die Deutschen in puncto Arbeitseifer bei jährlich im Jahresschnitt „nur“ 1.036 geleisteten Stunden den drittletzten Rang unter allen Industriestaaten. Bloß die Franzosen und Belgier seien träger, während die Neuseeländer fast 400 Stunden mehr abreißen würden. „Umso wichtiger dürfte es deshalb werden, die individuelle Arbeitszeit in Deutschland zu erhöhen“, folgerten die Forscher. Die Diskussion ist in ihrer Dumpfheit schwer zu ertragen und die Argumente der Akteure leicht zu entkräften. Historie Geregelte Arbeitszeiten, im Speziellen der Acht-Stunden-Tag, sind eine zentrale Errungenschaft der Arbeiterbewegung. In Deutschland 1918 gesetzlich festgeschrieben, hat die Regelung der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft Grenzen gesetzt und einen verlässlichen Rahmen für Freizeit und Erholung von Werktätigen abgesteckt und dafür, sich mehr um ihre Familie kümmern zu können. Weniger Lohnarbeit ist insofern ein Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts. Als solcher wurde später dann auch die Einführung der 35-Stunden-Woche in der Elektro- und Metallindustrie und anderen Branchen verstanden. Mehrarbeit forciert die ohnehin schon grassierenden Belastungs- und Überlastungsphänomene der modernen Arbeitswelt noch und stellt aus emanzipatorischer Sicht einen gesellschaftlichen Rückschritt dar. Rationalisierung Die fortschreitende Rationalisierung ersetzt sukzessive menschliche Arbeitskraft. Angesichts von Digitalisierung und dem Siegeszug der Künstlichen Intelligenz werden absehbar Millionen mehr Industriearbeitsplätze verloren gehen. In praktisch allen Bereichen der Gesellschaft wird der Mensch Maschinen das Feld räumen müssen. Schon heute gibt es hierzulande wieder rund drei Millionen Arbeitslose, Tendenz steigend. Mittel- und langfristig wird man nicht umhin kommen, die begrenzte Arbeit auf mehr Schultern zu verteilen. Andernfalls werden die sozialen Sicherungssysteme dem Ansturm Bedürftiger nicht gewachsen sein und Massen in Armut und Elend landen. Sozialkürzungen, worauf die neue Regierung setzt, werden auf Dauer keine Lösung sein. Wenn doch, stehen der BRD massive gesellschaftliche Verwerfungen ins Haus. Fachkräftemangel Engpässe an Arbeitskräften bestehen vor allem in gering vergüteten Beschäftigungsfeldern oder bei Tätigkeiten mit hohen Verschleißfaktoren, etwa im Einzelhandel, bei der Pflege oder im Bildungsbereich, zum Beispiel in Kitas und Schulen. Den Betroffenen noch mehr Lasten aufzubürden, wird die Lage verschärfen, viele endgültig aus dem Beruf vergraulen, während noch weniger Berufseinsteiger nachrücken. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hält dazu fest: „Wenn es um eine nachhaltige Fachkräftesicherung geht, dann spielen lebensphasen- und gesundheitsgerechte sowie insgesamt kürzere Arbeitszeiten eine zentrale Rolle: Sie sind wesentliche Elemente, wenn nicht gar der Schlüssel zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit, von gesunden sowie attraktiven Arbeitsbedingungen.“ Täuschen mit Zahlen Der Verweis des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) auf eine Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), um so die These von den arbeitsscheuen Deutschen zu belegen, ist irreführend. Die Erhebung von 2023 vermengt Daten zur Voll- und Teilzeitbeschäftigung und leitet daraus einen Pro-Kopf-Wert an geleisteten Arbeitsstunden ab. Vor zwei Jahren arbeiteten hierzulande rund 30 Prozent der Erwerbstätigen in Teilzeit, in Italien waren es rund 18 Prozent, in Polen nur sechs Prozent. „Das ist Äpfel mit Birnen vergleichen, die Statistik ist daher relativ wertlos“, moniert die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Yasmin Fahimi. Schaut man sich die Vollzeitbeschäftigten an, liegt Deutschland mit mehr als 40 Arbeitsstunden pro Woche im EU-Durchschnitt. Dazu kommt: Für 2022 hatte das IW noch 1.031 Arbeitsstunden pro Beschäftigtem in Deutschland ermittelt, fünf weniger als im Jahr darauf. Das deckt sich mit einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Demnach habe das Gesamtarbeitsvolumen 2023 mit 55 Milliarden Stunden „seinen bisherigen Höhepunkt“ erreicht. 2005 seien es lediglich 47 Milliarden Stunden gewesen. Von Rekord zu Rekord klettert seit Jahren auch die Zahl der hiesigen Erwerbstätigen, 2024 waren es 46,1 Millionen. Nach IW-Angaben sind knapp 77 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter berufstätig, im OECD-Durchschnitt jedoch bloß 69 Prozent. Insgesamt arbeiten in der BRD also im Verhältnis mehr Menschen tendenziell mehr als noch vor drei Jahren. Damals war vom faulen Deutschen keine Rede … Die Teilzeitfalle Teilzeitarbeit, Minijobs, Leiharbeit und andere prekäre Beschäftigungsverhältnisse suchen sich die Betroffenen in der Regel nicht aus freien Stücken aus. Vor allem für Frauen sind sie oft der saure Apfel, in den sie beißen müssen, um Familie und Berufstätigkeit vereinbaren zu können oder als Alleinerzieherin oder Pflegende von Angehörigen irgendwie über die Runden zu kommen. Häufig sind die entsprechenden Jobs – in Einzelhandel, Gesundheitswesen oder Gastronomie – schlecht bezahlt und stressig. „Dass – meist weibliche – Beschäftigte aufgrund von Arbeitsverdichtung in Teilzeit wechseln, sei beispielsweise in der Pflege längst zu beobachten, wodurch sich der Fachkräftemangel dort vergrößere“, heißt es dazu in einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung von 2022. Es war eine bewusste politische Entscheidung, ausgehend von den Hartz-Reformen unter Gerhard Schröder (SPD), den Niedriglohnsektor in Deutschland massiv auszubauen und der allgemeinen Lohndrückerei Vorschub zu leisten. Nun so zu tun, als wäre das Unheil vom Himmel gefallen und es damit getan, das Heer an Billig- und Kurzzeitjobbern zu mehr Arbeit zu nötigen, ohne substanziell bei den Lohn- und Arbeitsbedingungen nachzubessern, ist dummdreist. Oder, wie es das WSI ausdrückt: „Die vermeintlich einfache Gleichung ‚längere Arbeitszeiten sorgen für höhere wirtschaftliche Leistung und mehr Geld in den Sozialkassen‘ funktioniert so nicht.“ Vielmehr spreche die empirische Evidenz für flexible Arbeitszeitmodelle, „um eine hohe, adäquate und nachhaltige Erwerbsbeteiligung in allen Gruppen sicherzustellen“. Ungleichheit Eine „hohe und nachhaltige Erwerbsbeteiligung aller Gruppen“ setzt die Überwindung der Ungleichheiten beim Zugang zu Bildung voraus. Wachsende Teile der Bevölkerung sind aufgrund ihrer Herkunft nahezu chancenlos, ihren sozialen Status mit guter Bildung und gut honoriertem Job zu verbessern. Zugleich ist es für Kinder aus reichem Elternhaus ein Leichtes, später auch beruflich zu reüssieren. Und manch einer muss sich gar nicht mehr anstrengen, um zu den oberen Zehntausend zu gehören. Möglich machen dies Erbschaften und das quasi leistungslose Vermehren von Vermögen an den Finanzmärkten. Angesichts dieser sozialen Unwuchten einfachen Arbeitnehmern noch mehr Arbeit aufbrummen zu wollen, zeugt von völliger Blindheit gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Überstunden Wer über Mehrarbeit spricht, sollte unbezahlte Arbeit nicht vergessen. Nach Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit wurden in Deutschland 2023 rund 1,3 Milliarden Überstunden geleistet, aber nicht einmal die Hälfte davon bezahlt. Für 775 Millionen Stunden sahen die Beschäftigten keinen Cent. Setzt man dafür nur den Mindestlohn an, entspricht das fast zehn Milliarden Euro, um die sie geprellt wurden. „Wir stellen umgehend Überstundenzuschläge steuerfrei, die über die tariflich vereinbarte beziehungsweise an Tarifverträgen orientierte Vollzeitarbeit hinausgehen“, verspricht die Regierung. Aber kein Wort verliert sie in ihrem Koalitionsvertrag zum augenscheinlich systematischen Lohnklau. Produktivität Die entscheidende Größe zur Bemessung der menschlichen Arbeitskraft ist die Produktivität. In Deutschland werden pro Kopf im Jahr gut 45.000 Euro erwirtschaftet, in Polen sind es 31.000 Euro, in Griechenland 28.000 Euro – obwohl dort pro Kopf mehr Stunden abgerissen werden. Tatsächlich ist die Produktivität hierzulande immer noch sehr hoch, weit oben im EU-Ranking, wenngleich schwach rückläufig. Das liegt jedoch nicht an den Beschäftigten selbst, sondern dem Umfeld, in dem sie arbeiten, etwa auch der maroden Infrastruktur oder fehlenden Innovationen, zum Beispiel der deutschen Autobauer. Weil dem so ist, setzten diese aktuell in großem Stil Menschen auf die Straße oder schicken ihre Mitarbeiter in schlechter bezahlte Kurzarbeit. Ihnen vorzuhalten, zu wenig arbeiten zu wollen, ist der blanke Hohn. Weniger ist mehr Die Erfolgsformel lautet: Weniger Arbeit – mehr Leistung. Diesen Zusammenhang haben inzwischen etliche Untersuchungen nachgewiesen. Zum Beispiel ließ die Universität Münster im Rahmen eines bundesweiten Pilotprojekts 45 Organisationen aus verschiedenen Branchen sechs Monate lang eine Vier-Tage-Woche praktizieren. Ergebnis: „Das Wohlbefinden steigt, wenn die Arbeitszeit sinkt – bei gleichbleibender oder sogar leicht steigender Produktivität.“ Die Mitarbeiter berichteten von signifikanten Verbesserungen ihrer mentalen und körperlichen Gesundheit, weniger Stress und Burnout-Symptomen, höherem Aktivitätslevel und besserem Schlaf. Eine neuere Umfrage des gewerkschaftsnahen WSI ergab, dass sich 80 Prozent der Beschäftigten in Vollzeit eine Vier-Tage-Woche wünschen, der Großteil davon jedoch nur bei gleichem Lohn. In der fraglichen Veröffentlichung wird auf entsprechende Evaluationsstudien verwiesen. „Aus diesen ist bekannt, dass Betriebe höhere Lohnausgaben durch eine erhöhte Produktivität der Beschäftigten kompensieren können.“ Insofern handelt es sich „um ein Arbeitszeitarrangement, das nicht nur betriebliche Gewinne verspricht, sondern auch individuell breit favorisiert wird“. Ein Toyota-Werk in Göteborg machte bereits 2003 die Probe aufs Exempel und führte den Sechs-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich ein. Die Bilanz: Gleiche Produktivität, gesteigerter Umsatz und zufriedenere und gesündere Mitarbeiter. Fazit Praktisch alles spricht gegen eine Ausweitung der Arbeitszeiten, an erster Stelle der Mensch selbst, der dem kapitalistischen Verwertungsregime schon heute mit flagranten Symptomen körperlichen und mentalen Zerfalls mehr schlecht als recht gewachsen ist. Das Kalkül, durch mehr Deregulierung des Arbeitsrechts und Verbilligung des Faktors Arbeit der deutschen Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen, mag mithin kurzfristige Effekte zeitigen. Auf lange Sicht geht die Sache nach hinten los, weil der Verschleiß zu groß und die gesellschaftlichen Folgekosten (Gesundheit, Arbeitsmarkt, Soziales) überhand nehmen werden. Angezeigt wäre im Gegenteil eine seriöse Debatte über eine gerechtere Verteilung der im Schwinden begriffenen Erwerbsarbeit im Zeichen von Digitalisierung und Rationalisierung. Wenn heutzutage junge Menschen keinen Bock haben, sich im Hamsterrad von Fremd- und Selbstausbeutung für eine menschen- und naturverachtende Wirtschaftsordnung zu verdingen, ist das Anlass zur Hoffnung. Vielleicht entwickelt sich daraus über kurz oder lang eine Kraft des Umdenkens. Einstweilen haben leider noch die Babyboomer das Sagen. „Eine Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich steht aktuell nicht auf der gewerkschaftlichen Forderungsliste“, ließ die Erste Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall (IGM), Christiane Benner, am Dienstag via Bild verbreiten. „Sinnvoll“ sei sie dennoch. Ach was?! Solche „Arbeiterführer“ halten sich Kahlschläger als Bettvorleger. Titelbild: penofoto/shutterstock.com
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Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (I)
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (I)
Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche ab jetzt in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln. – Es beginnt mit einer zweiteiligen Serie. Von Leo Ensel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Statt einer Einleitung eine kurze Fabel des Philosophen Günther Anders: „Worte zu putzen, das überlasse ich dir“, meinte der Halbphilosoph. „Mir liegt allein an der Wahrheit.“ „Ärmster!“ rief der Philosoph. „Warum Ärmster?“ „Weil du nun auf beides verzichten musst.“ „Auf beides?“ „Jawohl. Auch auf die Wahrheit.“ „Auf welche?“ „Auf die Wahrheit über die Wahrheit.“ „Und die lautet?“ „Dass sie nur durch geputzte Fenster hindurch scheint.“ Abschreckung und Dialog Wie der Generalinspekteur der Bundeswehr a. D. und ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat, scharfsinnig herausgearbeitet hat, lauten die heutigen offiziellen Begriffe der NATO-Strategie nicht mehr, wie im (ersten) Kalten Krieg, „Sicherheit und Entspannung“, sondern „Abschreckung und Dialog“. Dazu die langjährige Russlandkorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz: „‚Abschreckung‘ ist ein aggressiver, ‚Sicherheit‘ ein defensiver Begriff. ‚Dialog‘ verkommt zur Leerformel, wenn man die Interessen des Gegenübers als illegitim betrachtet. ‚Entspannung‘ steht dagegen für ein Programm, für einen umfassenden politischen Ansatz. Der Qualitätsunterschied zwischen der Politik damals und heute ist allein in der Begrifflichkeit erkennbar.“ auf dem Hintergrund unserer Geschichte Dass man die Lehren aus der Geschichte zu ziehen habe, verkündet heute jeder Plattkopf. Genau wie die Phrase, dass, wer dies nicht tue, zu deren Wiederholung verdammt sei. Aber schon bei der Frage, welche Lehren es denn seien, beginnt der Streit. Wir Deutschen mit unserer singulären Verbrechensgeschichte haben allerdings nicht nur die richtigen Lehren längst gezogen, sondern nun auch noch eine raffinierte, ebenfalls singuläre Aufarbeitungsgeschichte vorzuweisen: „Indem man sich zur Singularität eines Menschheitsverbrechens bekennt, hat man zugleich den singulären Charakter seiner nationalen Läuterung unter Beweis gestellt“, brachte es mal jemand hervorragend auf den Begriff. Alles, was wir Deutschen „auf dem Hintergrund unserer Geschichte“ nun unternehmen, ist daher legitim, nein: moralisch geboten. Daran können sich andere Nationen mal ein Beispiel nehmen … Kurz: Am deutschen Aufarbeitungswesen soll die Welt jetzt gefälligst genesen! Bündnisfall/Einsatz Euphemistisches Lieblingswort selbsternannter „Experten“ wie des leitmedial omnipräsenten Bundeswehrprofessoren Carlo Masala. Nannte man früher schlicht: „Krieg“. Du willst immer nur mehr Was wie der Titel eines Sex-Handbuchs für 15- bis 16-Jährige daherkommt – und den männlichen Frischlingen zur Premiere gleich noch jovial „Weil du es kannst“ auf die Schultern klopft –, ist nichts anderes als der aktuelle, „Karriere“ versprechende Werbeslogan der (noch freiwilligen) Bundeswehr. Epochenbruch Viel verwendete Begriffe nutzen sich, namentlich zu Kriegszeiten, schnell ab. Bereits zweieinhalb Monate nach Scholzens „Zeitenwende“ sah sich Bundespräsident Steinmeier – zum 8. Mai, versteht sich – gezwungen, verbal noch mal einen draufzulegen: Nun wurde aus „Zeit“ gleich eine „Epoche“ und die „Wende“, die ja zumindest theoretisch eine korrigierende 180-Grad-Wende nicht völlig ausgeschlossen hätte, zum vermutlich kaum noch zu kittenden „Bruch“ radikalisiert. Freiheitsdienst So nennt Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der bayerischen GRÜNEN, den von ihr vorgeschlagenen sechsmonatigen sozialinklusiven Arbeitsdienst für die postmodern-diverse deutsche Volksgemeinschaft zwischen 18 und 67 Jahren. „Damit wir als Gesellschaft robuster werden, unsere Freiheit verteidigen und das Miteinander stärken, braucht es uns alle. Der Freiheitsdienst ist ein Gemeinschaftsprojekt für Deutschland von allen für alle. Durch den Freiheitsdienst verbinden wir Generationen und Milieus, stärken unsere Gesellschaft und verteidigen, was uns wichtig ist.“ Im Grunde nichts anderes als die schamhaft versteckte Einführung des Wehrdienstes, allerdings: „Der Freiheitsdienst ist viel mehr als der alte Wehrdienst“, so der innenpolitische Sprecher Florian Siekmann: „Er zielt auf eine Gesamtverteidigung mit gesellschaftlicher Widerstandskraft.“ Und t somit hervorragend in das Konzept des „Operationsplan Deutschland“! Genozid (genozidal) Ein Begriff, den man wohl besser gar nicht erst in die Welt gesetzt hätte. Denn er schürt einerseits wie kein anderer Emotionen und ist andererseits nahezu beliebig zu ge- (und miss-)brauchen. Als „Genozid“ wird längst nicht mehr nur der Holocaust oder das bezeichnet, was die Türken im Schatten des Ersten Weltkrieges den Armeniern angetan haben. Als „Genozid“ gilt mittlerweile (aus russischer Perspektive) auch der Angriff Kiews auf den Donbass seit April 2014 sowie (aus westlicher Perspektive) der „völkerrechtswidrige Angriffskrieg“ bzw. „Vernichtungskrieg“ Russlands gegen die Ukraine seit Februar 2022. Gleichgewicht Suggeriert, dass alles schon irgendwie in Ordnung sei, wenn zwei verfeindete Seiten über annähernd dasselbe Waffenpotenzial verfügen. Das Konzept haut allerdings schon aus zwei Gründen nicht hin: Erstens fühlt sich jede Seite nur dann „sicher“, wenn sie sicherheitshalber noch über etwas mehr als die jeweils andere verfügt. (Wodurch eine – im Worst Case endlose – Aufrüstungsspirale bereits im Kern angelegt ist.) Zweitens ignoriert die Formel die Bedeutung des Niveaus, auf dem Gleichgewicht herrscht bzw. herrschen soll. Herrscht zwischen zwei verfeindeten Nachbarn ein Gleichgewicht, weil beide über je 50 Benzinfässer verfügen, sind die Folgen im Falle eines plötzlichen Blitzeinschlags etwas anders, als wenn ein Gleichgewicht auf Nullniveau vorgelegen hätte … Hitler, neuer oder zweiter Taucht wie auf Kommando immer dann auf, wenn der Westen gerade einen neuen Krieg vorbereitet oder bereits in ihn verwickelt ist. War es im Frühjahr 1999, als der Westen die Bundesrepublik Jugoslawien bombardierte, Slobodan Milošević; war es vier Jahre später Saddam Hussein, als die USA mit ihrer „Koalition der Willigen“ einen völkerrechtswidrigen und mit Lügen begründeten Angriffskrieg gegen den Irak führten und Hundertausende Menschen „unter die Erde brachten“, so ist es nun selbstverständlich der russische Präsident Wladimir Putin. – Willkommener Nebeneffekt: Die Entsorgung der deutschen Vergangenheit, denn nun hat ja jedes Land ‚seinen Hitler‘! (vgl. auch „Vernichtungskrieg“) Hunderte von Millionen Menschen Hat laut Agnes Strack-Zimmermann Russlands „zweiter Hitler“, der „Mörder und Killer“ Wladimir Putin bereits „unter die Erde gebracht“. – Kleine Korrektur, liebe EP-Abgeordnete und Rüstungslobbyistin, um die Maßstäbe wieder geradezurücken: Hitler-Deutschland hat zwischen 1941 und 1944 im Rahmen seines veritablen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion fast 27 Millionen Menschen unter die Erde gebracht. So viele Tote hatte noch kein anderer „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ der Weltgeschichte zur Folge! (By the way: „Die Ukraine ernährt“ auch nicht „70 Milliarden Menschen“, wie Frau Strack-Zimmermann flott behauptet. Sondern etwas weniger.) humane Kosten „Nur, wenn eine Gesellschaft bereit ist, die Kosten zu tragen, die ein Bündnisfall nach sich ziehen würde – und damit meine ich nicht nur die humanen Kosten, sondern ich meine die politischen und ökonomischen Kosten –, dann wird Ihnen alles nichts helfen –“ und nun gerät dem Bundeswehrprofessor Carlo Masala der Satz nicht nur inhaltlich, sondern auch grammatikalisch ins vollends Chaotische. Zum gerade noch identifizierbaren Inhalt schreibt die Journalistin und Sprachkritikerin Christiane Voges treffend: „‚Sicherheits‘-Experte Masala erwähnt das massenhafte Töten und Getötet-Werden, Verletzen und Verletzt-Werden, Vertreiben und Vertrieben-Werden durch und von Menschen nur im Nebensatz als ‚nur humane Kosten‘. Wie ein Schachspieler, der Bauern buchstäblich ‚im Vorübergehen‘ schlägt. Allerdings ist das Ganze kein Spiel, sondern längst bitterer Ernst.“ Koalition der Willigen Frei nach Goethe: „Und bist du nur willig, so brauch‘ ich Gewalt.“ – Mit dir! Und durch dich. konventionell Klingt fast ungefährlich. Jedenfalls nicht bedrohlicher als „konventionelle Landwirtschaft“. Aber dass das Wort „konventionell“ im Zusammenhang mit Waffen in unseren Ohren mittlerweile schon fast harmlos klingt, ist ausschließlich der Tatsache geschuldet, dass die existierenden Atom-, gar thermonuklearen Sprengköpfe – die größte jemals getestete Wasserstoffbombe hatte eine 4.000-fache (in Worten: viertausendfache) Sprengkraft der Hiroshimabombe – die Maßstäbe längst ins Unvorstellbare nach oben verrückt haben. Zur Erinnerung: Sämtliche Kriege der Weltgeschichte minus Hiroshima und Nagasaki wurden „konventionell“ geführt! Die Folgen sind bekannt. kriegstüchtig Und nicht etwa „verteidigungsbereit“. Das Wort „Verteidigung“ wird durch „Krieg“ und „Bereitschaft“ durch „Tüchtigkeit“ ersetzt. Ein Wort, das aus offiziellem Munde vor vier Jahrzehnten noch massiven antimilitaristischen Widerstand provoziert hätte, heute jedoch von der Mehrheit der Bevölkerung mit schicksalsergebenem Achselzucken hingenommen wird. (Wird fortgesetzt.) Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge. Titelbild: arvitalyaart/shutterstock.com
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ZDF-Reportage zur Bundeswehr: Wer diese 28 Minuten angeschaut hat, sollte zum Schluss kommen: Lasst das mit der...
ZDF-Reportage zur Bundeswehr: Wer diese 28 Minuten angeschaut hat, sollte zum Schluss kommen: Lasst das mit der...
Die Macher der ZDF-Reportage „Stresstest Verteidigung – wie abwehrbereit ist die Bundeswehr?“ lieferten in wahnwitzigen Aufrüstungszeiten aller Lebensbereiche eine interessante Produktion. Die Sendung muss aufmerksame, kritische und vielleicht auch dem Aufrüsten wohlwollend gesinnte Zuschauer zum Schluss kommen lassen, dass das Rüsten, Planen von Krieg, Stationieren von deutschen Soldaten im Osten alles andere als friedvoll, verteidigungsbereit und sinnvoll ist. Von wegen Schlachtfeld. Für mich gab es einen Funken Hoffnung, verbreitet vom ÖRR: Ein kleiner Satz zum Finale tauchte so entwaffnend auf, auf dass jede Argumentation für die gegenwärtige Militarisierung ad absurdum geführt ist. Ein Zwischenruf von Frank Blenz. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Deutsche Brigade – Kanonenfutter im Angriffsfall Bundeskanzler Friedrich Merz war dieser Tage extra nach Vilnius (Litauen) zum Aufstellungsappell der neuen, ständigen (!) Bundeswehr-Panzerbrigade direkt an der „Ostflanke“ gereist. Markige Sprüche hatte Merz ebenfalls in petto, wie zum Beispiel diesen: „Der Schutz von Vilnius ist der Schutz von Berlin.“ Und schon sind wir beim Thema Verteidigungsbereitschaft und bei der Fähigkeit, den Russen aufzuhalten, also noch bevor der seine Landesgrenze überschreitet. Und wenn nicht so, dann wenigstens ein paar Stunden aufhalten, bis Verstärkung kommt, lautet die Devise. Davon ist in der ZDF-Reportage „Stresstest Verteidigung – wie abwehrbereit ist die Bundeswehr?“ erschreckenderweise die Rede. Die Zuschauer erfahren Näheres zu dieser von Merz gelobten und ersehnten Brigade, und irgendwie wird gleichzeitig deutlich, dass das ganze Unternehmen Ostflanke letztlich ein einziger Irrsinn ist. Das Bild eines möglichen Krieges wird unverblümt dargestellt und die Aussicht auf Zerstörung, auf Tod, welcher durch die Planer und Strategen strategisch ganz nüchtern gesehen in Kauf genommen wird. Ich erfahre den Grund, warum Deutschland Vilnius verteidigen will, wie der Kanzler sagt: Die „Deutsche Brigade“ sei dazu da, als vorderste Linie der Verteidigung einen russischen Angriff zu verzögern. Ein Experte der Sparte Kriegsführung, Frank-Stefan Gady vom International Institute for Strategic Studies in London, spricht davon, dass in dieser heftigen Anfangsphase auch die größten Verluste (an Menschenleben auf Seiten Deutschlands und der Verbündeten) zu erwarten seien, weil die Russen zum Auftakt mit der größten Feuerkraft agieren würden. Von Zehntausenden Opfern spricht Gady, auch von zivilen. Wie er findet, wäre das ja selbstverständlich. Wen es beim Militär treffen würde, definiert Gady so: „Das wird disproportional die Kampftruppen treffen, Jägereinheiten, Panzergrenadiere, Kampfpanzerverbände, Kampfflugzeuge …“ (Quelle: ZDF, ab Minute 26:50) „Wie in fast allen Kriegen wird es vor allem auf die Bodentruppen ankommen – auf die, die dem Gegner am nächsten sind“ „Wie in fast allen Kriegen wird es vor allem auf die Bodentruppen ankommen – auf die, die dem Gegner am nächsten sind“, sagt der Sprecher in der Reportage. Und ein weiterer Fachmann kommt zu Wort, Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg. Der weiß, was den Krieg ausmachen werde: „Masse wird zählen.“ Friedensforscher Kühn kommt überaus mahnend zu Wort: Masse, Masse wird zählen, das ist ganz klar. Also wenn man relativ früh ausschließt, dass man das Ganze irgendwie nuklear ausfechten möchte, dann wird Masse zählen. Und das ist, das ist ein Problem, weil das ist eine Art von Krieg, die wir in Europa nicht mehr führen können und auch eigentlich gar nicht mehr führen wollen, das ist auch für uns politisch nicht mehr vertretbar. (ebd., ab 27:30 min.) Die NATO-Osterweiterung ist für Russland bedrohlich Fast beiläufig erfährt der Zuschauer, dass neben der Stationierung der Bundeswehr in Litauen andere NATO-Partner schon schneller da waren: In Estland seien die USA, die Briten, Franzosen vor Ort, in Polen könnte eine große Sache ieren, käme es zu einem Angriff. Der Sprecher der Reportage untermalt mit sonorer Stimme die optisch beeindruckenden Bilder der Waffen, der Manöver, der Kampfjets und Drohnen, dabei Sätze sprechend wie: Die Bundeswehr steht vor einer großen Herausforderung. Neue Waffen, neue Systeme müssen angeschafft werden. Der Krieg der Zukunft wird völlig neuartig sein, mit Robotern, Drohnen und KI. Der Sinnlosigkeit dieser Investitionen, dieses beschriebenen Ansinnens, die nächsten Jahre die Bundeswehr zu einem hypermodernen Monstrum der Verteidigung (?) auswachsen zu lassen, stellt der Sprecher diese Worte gegenüber: Und gleichzeitig so wie immer, mit menschlichem Leid an der Front, mit Schützengräben, Verwundungen und Gefallenen. Die finale Aussage der Hoffnung Nach einer knappen halben Stunde kommt es zu einer finalen Aussage der Hoffnung und einer Art Augenöffner: Nur in Kriegswaffen zu investieren, reicht nicht aus. Es muss alles unternommen werden, um es erst gar nicht so weit kommen zu lassen: Verteidigung beginnt auch mit Diplomatie. Dass dem Gesagten noch ein Schlusssatz angefügt wird, empfinde ich wie ein Zugeständnis an die, die nicht von Aufrüstung und von Armeen lassen wollen: Abwehrbereite Armeen bleiben dennoch unverzichtbar. Ob eine deutsche Armee dafür weit vom eigenen Territorium stationiert werden muss? Titelbild: Screenshot ZDF
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Sozialstaat auf Abruf: Die neue Grundsicherung ist ein Rückschritt mit System
Sozialstaat auf Abruf: Die neue Grundsicherung ist ein Rückschritt mit System
Die geplante Reform des Bürgergelds, wie sie im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD skizziert ist, markiert keine sozialpolitische „Weiterentwicklung“, wie es die Regierungssprache nahelegt – sondern eine technokratisch verbrämte Rückabwicklung solidarischer und ethischer Prinzipien. Der Sozialstaat wird nicht repariert, sondern fundamental umgeschrieben – das ist eine strukturelle und moralische Bankrotterklärung. Von Detlef Koch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. 1. Ein Systemwechsel im Schatten Orwell’scher Neusprech-Rhetorik Hinter Begriffen wie „Lebensleistung“, „Vermittlungsvorrang“ und „Fördern und Fordern“ verbirgt sich ein Sanktionsapparat, der an die autoritären Grundzüge der Agenda 2010 anschließt und zugleich auf eine repressive Absicherung der Lohnarbeitsgesellschaft zielt. Mit der Umbenennung des Bürgergelds in „neue Grundsicherung für Arbeitssuchende“ wird nicht nur ein symbolpolitischer Reset versucht. Es ist eine semantische Operation mit politischer Stoßrichtung: Der Rückgriff auf das Modell der Arbeitsverpflichtung als zentrales Strukturprinzip sozialer Sicherung. Der Staat soll nicht mehr in erster Linie schützen – sondern selektieren, konditionieren und sanktionieren. 2. Was geplant ist: Die Neuauflage der sozialen Repression Die zentralen Eckpunkte dieser Reform offenbaren ein klares Machtverhältnis vom Herrn zum Knecht: Der Vermittlungsvorrang wird wieder eingeführt. Weiterbildungsangebote verlieren an Priorität zugunsten unmittelbarer Arbeitsaufnahme – unabhängig von Qualifikation oder Nachhaltigkeit. Mit der Rückkehr zum Vermittlungsvorrang verfolgt die Bundesregierung ein arbeitsmarktpolitisches Dogma, das längst als überholt galt. Nicht mehr die nachhaltige Qualifizierung, sondern die unmittelbare Arbeitsaufnahme – ungeachtet von genauigkeit oder beruflicher Perspektive – soll wieder Priorität erhalten. Damit wird ein zentrales sozialstaatliches Reformziel revidiert: die Förderung von Bildungsaufstieg und individueller Kompetenzentwicklung. Anstelle echter Teilhabe rückt nun die statistische Reduktion der Arbeitslosenzahlen in den Vordergrund. Die Neuregelung entwertet Qualifikation und berufliche Eignung, indem sie jede Tätigkeit – unabhängig von ihrer Qualität – zur Pflicht erhebt. Ein solches Paradigma stärkt nicht die Erwerbsintegration, sondern zementiert prekäre Beschäftigung. Die Maßnahmen verkennen, dass stabile Arbeitsverhältnisse auf Ausbildung, nicht auf kurzfristiger Vermittlung basieren. Bildung wird zur vernachlässigten Größe, Weiterbildung zur nachrangigen Option – dies in einer Zeit, in der Transformation und Digitalisierung neue Kompetenzen verlangen. Was als „aktivierender Sozialstaat“ firmiert, mutiert so zur reaktiven Disziplinierungsinstanz. Die Botschaft an Leistungsbeziehende lautet nicht mehr: „Lernen lohnt sich“, sondern: „Arbeit um jeden Preis“. Das erinnert an frühere Zwangslogiken – nicht an moderne Arbeitsmarktpolitik. Und es stellt nicht zuletzt die Frage: Cui bono? Wer profitiert von einer Politik, die auf schnelle Platzierung statt auf langfristige Entwicklung setzt? Langfristig niemand! Mitwirkungspflichten werden verschärft, Sanktionen früher und härter ausgesprochen. Wer zweimal eine „zumutbare“ Arbeit ablehnt, muss mit vollständigem Leistungsentzug rechnen – eine Maßnahme, die dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 offen widerspricht. Die geplante Regelung, Bürgergeldbeziehenden bei wiederholter Ablehnung einer als „zumutbar“ definierten Tätigkeit sämtliche Leistungen zu entziehen, markiert einen folgenreichen Bruch mit rechtsstaatlicher Logik. Während selbst verurteilten Straftätern im Strafvollzug ein verfassungsrechtlich garantiertes Minimum an Versorgung zusteht, soll Erwerbslosen dieses Minimum entzogen werden können – nicht aufgrund einer Straftat, sondern wegen eines normativen Fehlverhaltens in einem ungleichen Machtverhältnis.Das Bundesverfassungsgericht hatte 2019 unmissverständlich geurteilt, dass Sanktionen im SGB-II-System nicht zu einer vollständigen Entziehung existenzsichernder Leistungen führen dürfen, weil sie das Gebot der Menschenwürde verletzen. Ein vollständiger Leistungsentzug widerspricht damit dem sozialstaatlichen Minimalprinzip und der aus Artikel 1 in Verbindung mit Artikel 20 GG abgeleiteten Pflicht des Staates, ein soziokulturelles Existenzminimum sicherzustellen. Indem die Koalition dennoch einen solchen Mechanismus einführt, verschiebt sie das Verhältnis von „Fördern und Fordern“ in Richtung einer Disziplinierungspolitik, in der Grundrechte konditional werden. Der Entzug materieller Existenzgrundlagen wird als regulärer Hebel zur Durchsetzung arbeitsmarktpolitischer Zielvorgaben begriffen – ohne Rücksicht auf individuelle Zumutbarkeit, strukturelle Hindernisse oder psychosoziale Belastungen. Dies ist verfassungsrechtlich fragwürdig und normativ hoch bedenklich. Die Karenzzeit beim Schonvermögen entfällt. Stattdessen wird eine neue Abstufung eingeführt, die Menschen mit lückenhaften Erwerbsbiografien (z. B. Alleinerziehende, prekär Beschäftigte, Geflüchtete) strukturell benachteiligt. Mit der Abschaffung der Karenzzeit beim Schonvermögen und der Einführung einer gestaffelten Bewertung wird das sozialstaatliche Minimalprinzip fundamental verschoben. Künftig zählt nicht mehr allein die Bedürftigkeit im Moment existenzieller Not, sondern die kumulierte Erwerbsbiografie als normatives Kriterium für staatliche Hilfe. Wer über Jahre hinweg Lücken im Erwerbsverlauf aufweist – etwa durch Sorgearbeit, Migration, Krankheit oder prekäre Beschäftigung – sieht sich strukturellem Misstrauen ausgesetzt: Nicht das aktuelle Fehlen von Mitteln, sondern die vermeintlich unzureichende „Lebensleistung“ entscheidet über das Maß der Unterstützung. Diese Reform setzt auf eine implizite Unterscheidung zwischen „verdienter“ und „unverdienter“ Bedürftigkeit. Während stabile Vollzeitkarrieren mit Schonvermögensboni versehen werden, geraten gerade jene unter Druck, die ohnehin am Rand des Systems stehen. Alleinerziehende, Geflüchtete und Geringqualifizierte, deren Erwerbsverläufe durch soziale Brüche geprägt sind, büßen doppelt: ökonomisch wie symbolisch. Die Maßnahme wirkt regressiv – sie privilegiert Vergangenheiten statt gegenwärtige Notlagen – und unterminiert damit die Gleichbehandlung als Kern sozialer Sicherung.Was als Rationalisierung des Leistungsrechts verkauft wird, führt in Wahrheit zu einer selektiven Finanzialisierung sozialer Absicherung: Wer mehr „verwertbares“ Kapital aus seinem bisherigen Leben mitbringt, darf länger behalten. Wer nichts hat, muss sofort alles offenlegen. Das untergräbt Vertrauen und schwächt Teilhabe – die Langzeitwirkung ist eine stille Erosion sozialer Kohärenz. Die Regelsatzentwicklung wird entkoppelt von der realen Inflationsdynamik – mit der Konsequenz, dass die ärmsten Haushalte dauerhaft Kaufkraft verlieren.Mit der geplanten Rückkehr zur alten Anungsformel wird die Entwicklung der Regelsätze künftig wieder von der realen Inflationsdynamik entkoppelt. Die Maßnahme erfolgt in einem Moment anhaltender Teuerung und trifft ausgerechnet jene Haushalte, deren Konsum fast ausschließlich dem existenziellen Bedarf dient. Statt auf einen nachvollziehbaren Inflationsausgleich zu setzen, wird ein statisches Berechnungsverfahren reaktiviert, das strukturell hinter der tatsächlichen Preisentwicklung zurückbleibt. Die Folge ist ein schleichender Verlust an Kaufkraft für die untersten Einkommensgruppen – und damit ein „Konsumverzicht aus Zwang“. Ökonomisch ist die Maßnahme kurzsichtig. Denn Mikroausgaben dieser Gruppen entfalten makroökonomische Wirkung: Sie fließen direkt in den Binnenkonsum, wirken stabilisierend in Krisenzeiten und tragen zur Nachfrage in preissensiblen Sektoren bei. Ihre Beschneidung schwächt somit nicht nur die individuelle Teilhabe, sondern auch die konjunkturelle Resilienz. Während der Staat Milliarden in konjunkturelle Stimuli und Subventionen für Unternehmen investiert, wird ausgerechnet bei jenen gekürzt, die jeden Euro unmittelbar ausgeben müssen. Der beschlossene Mechanismus der Regelsatzanung mutiert damit zur fiskalpolitischen Stellschraube – zulasten der Ärmsten. Es ist ein indexpolitischer Blindflug, der soziale Härte verstetigt und wirtschaftspolitisch kontraproduktiv ist. Gerade in einer fragilen Gesamtwirtschaft ist diese Maßnahme ein Risiko: für den sozialen Frieden wie für die Konsumdynamik. Wohnkosten sollen pauschaliert werden. Schon jetzt müssen über 300.000 Haushalte einen Teil ihrer Miete aus dem Regelsatz aufbringen – künftig könnten es deutlich mehr werden. Die geplante Pauschalierung der Wohnkosten im Bürgergeldsystem markiert einen tiefgreifenden Systemwechsel mit gravierenden sozialen Folgen. Bereits heute müssen über 300.000 Bedarfsgemeinschaften einen Teil ihrer Mietkosten aus dem regulären Regelsatz bestreiten – also aus einem Budget, das eigentlich der Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums dienen soll. Künftig, so die Prognose, wird sich diese Zahl deutlich erhöhen, da die neue Pauschale vielerorts unter den realen Wohnkosten liegen dürfte. Ökonomisch betrachtet bedeutet dies eine systematische Budgetverdrängung: Fixkosten wie Miete werden aus einem pauschalen Betrag bestritten, der nicht an lokale Mietspiegel oder reale Preisentwicklungen anget ist. Für viele Betroffene bleibt damit nur die Möglichkeit, andere notwendige Ausgaben – etwa für Ernährung, Kleidung oder Teilhabe – zu kürzen. Faktisch führt dies zu einer sozialen Unterdeckung und unterschreitet das verfassungsrechtlich garantierte Minimum menschenwürdiger Existenz. Die Maßnahme ist weder ein bloß technischer Eingriff noch ein Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung, sondern ein struktureller Eingriff in die Daseinsvorsorge. Wer gezwungen ist, das gesetzlich definierte Existenzminimum für Wohnkosten zu verwenden, lebt unterhalb eben jenes Minimums. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der sozialstaatlichen Legitimität der Pauschale – und nach der politischen Prioritätensetzung in einem Staat, der zugleich milliardenschwere Konjunkturpakete auflegt. Ein Konzept, das Bedürftige zwingt, zwischen Wohnraum und Lebensunterhalt zu wählen, konterkariert das Versprechen der sozialen Sicherung. Es reduziert existenzielle Grundrechte auf ein Rechenexempel – zulasten jener, die sich ihrer eigenen Unterversorgung nicht entziehen können. 3. Wer die Zeche zahlt: Die Schwächsten – und das bewusst Die Reform trifft nicht „die Arbeitslosen“ im Allgemeinen. Sie trifft besonders verletzliche Gruppen mit systematisch eingeschränkten Ressourcen: Alleinerziehende, die zwischen Kinderbetreuung, Jobcentervorgaben und Erwerbsarbeit zerrieben werden. Ältere Erwerbslose, die nach jahrzehntelanger Arbeit ihre Rücklagen verlieren, aber real kaum vermittelbar sind. Menschen mit chronischen oder psychischen Erkrankungen, die aufgrund bürokratischer Zumutungen nicht in der Lage sind, Fristen und Meldepflichten einzuhalten. Geflüchtete, deren Integrationserfolge ignoriert werden, um politisch ein Exempel zu statuieren. Die Folgen sind gravierend: Stigmatisierung, soziale Isolation, psychische Belastung und der Rückzug aus öffentlichen Räumen. Sozialpolitik wird zur Disziplinierungspolitik – mit dramatischen Implikationen für das Menschenbild in der Demokratie. 4. Bürgergeld als Systemandrohung: Ein Damoklesschwert für Beschäftigte Die geplanten Reformen haben eine strukturelle Nebenwirkung: Sie stärken das Bürgergeld nicht als soziale Absicherung – sondern als staatliche Drohkulisse. Bereits heute dient die Grundsicherung als stilles Druckmittel, um Erwerbstätige im Niedriglohnsektor gefügig zu halten. Die Angst vor Abstieg und Jobverlust wirkt disziplinierend. Wer „aufstockt“, steht unter doppeltem Druck – ökonomisch und moralisch. In dieser Logik wird nicht etwa der Arbeitsmarkt reformiert, sondern die Erwartung an den Einzelnen gesteigert, jede noch so schlechte Beschäftigung zu akzeptieren. Diese strukturelle Erpressbarkeit ist kein Kollateralschaden – sie ist menschenverachtendes Kalkül. 5. Psychosoziale Folgen: Der Rückbau des Existenzrechts Wer Armut istriert statt sie zu bekämpfen, produziert seelische Verwundung. Die Forschung der letzten 25 Jahre belegt eindeutig: Armut ist ein Stressfaktor mit chronischer Wirkung – sie erhöht das Risiko für Depressionen, Angststörungen und soziale Isolation. Die geplanten Leistungskürzungen und das Sanktionsregime werden diesen Druck verschärfen – und vor allem bei Kindern, Jugendlichen und Alleinstehenden zu langfristigen psychischen Schäden führen. Die „erlernte Hilflosigkeit“, wie sie psychologische Studien beschreiben, ist kein individuelles Versagen – sie ist das Resultat struktureller Aussichtslosigkeit. Der Staat entzieht den Menschen nicht nur Geld – er entzieht ihnen Handlungsspielraum, Würde und Zugehörigkeit. 6. Rhetorik der Täuschung: Von Lebensleistung und Eigenverantwortung Die Regierung spricht von „Leistungsgerechtigkeit“. Gemeint ist: Wer nicht leisten kann oder darf, erhält auch keine Solidarität mehr. Die Rede von „Lebensleistung“ bedeutet faktisch: Wer in den falschen Jahrzehnten krank war, Kinder erzogen oder keine durchgehende Erwerbsbiografie hat, wird bestraft. Es ist eine subtile Form der sozialen Selektion. Unter dem Vorwand „Eigenverantwortung“ zieht sich die Gesellschaft aus der Verantwortung zurück. Sozialstaat wird zur Rückversicherung der Starken. 7. Die SPD und das gespaltene Erbe Dass diese Reformen mitgetragen werden von der SPD, ist nicht einfach ein politischer Widerspruch – es ist ein Verrat an ihrem historischen Anspruch. Lars Klingbeils Behauptung, die SPD wolle wieder „Arbeiterpartei“ sein, wirkt vor diesem Hintergrund wie Hohn. Wer Sozialabbau organisiert und zugleich das rhetorische Banner der Gerechtigkeit schwenkt, dem droht nicht nur der Verlust des Rückhalts – sondern seiner politischen Identität. 8. Politische Logik moralischer Verwahrlosung: Kalkulierte Verwundbarkeit als Regierungsprinzip Was eine demokratisch legitimierte Regierung dazu bringt, eine Sozialpolitik zu betreiben, die psychisch belastet, existenziell bedroht und sich von der Idee der Menschenwürde abkoppelt, lässt sich nicht allein durch politische Pragmatik oder fiskalische Zwänge erklären. Vielmehr deutet vieles auf einen strukturell verankerten, moralisch indifferenten Zugriff auf soziale Verwundbarkeit hin – eine Verrechtlichung der Zumutung, die durch legislativen Zynismus kaschiert wird und systematisch entwürdigende Lebensverhältnisse schafft. Diese Politik vollzieht sich mit offenkundigem Wissen um ihre sozialen Folgen. Sie verkennt nicht, sondern kalkuliert die Eskalation von Notlagen: die psychische Destabilisierung durch chronischen Existenzstress, die Isolation durch soziale Ausgrenzung, das erhöhte Erkrankungsrisiko in Armut. Das staatlich kodifizierte Fordern und Sanktionieren verkommen so zur Chiffre eines institutionellen Sadismus, in dem Sozialgesetzgebung nicht mehr schützt, sondern diszipliniert. Psychologisch betrachtet liegt dem ein Verdrängungskomplex zugrunde, der Verantwortung externalisiert: Nicht politische Versäumnisse, sondern das Verhalten der Armen wird problematisiert. Ein Mechanismus projektiver Schuldabwehr – flankiert von entmenschlichenden Diskursen über „Leistungsunwillige“. In der politischen Kommunikation wird der Sozialstaat rhetorisch als Hilfeinstanz verteidigt, faktisch jedoch als Druckregime konzipiert. Die semantische Umetikettierung des Bürgergelds zur „neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende“ ist hierfür exemplarisch. Demokratietheoretisch ist dieses Vorgehen ein Indikator für eine politische Entkoppelung von Verantwortung. Die Regierung agiert nicht mehr im Modus der sozialen Repräsentation, sondern der selektiven Steuerung: Menschen werden zu adressierbaren Einheiten einer wirtschaftspolitischen Nutzenlogik. Die soziale Position der Menschen wird als individuelles Versagen gelesen. In dieser Logik gilt: Kalkulierte Verwundbarkeit ist kein politisches Versagen, sondern ein Steuerungsinstrument. Gesetze, Verwaltungsakte und die Sprache offizieller Dokumente spiegeln diese Haltung wider – nicht als Exzess, sondern als System. Die menschenrechtliche Schwelle zur Würde wird nicht unterschritten, sondern istrativ nivelliert. Der Sozialstaat erscheint nicht mehr als Ausdruck gemeinsamer Solidarität, sondern als Instrument der sozialen Auslese durch formalisierte Verknappung. Dies ist keine politische Randerscheinung, sondern eine breitflächig etablierte strukturelle und moralische Bankrotterklärung. Sie bricht mit dem demokratischen Versprechen gleicher Achtung – nicht aus ökonomischer Notwendigkeit, sondern aus einem ideologisch verformten Staatsverständnis, das die Bedürftigkeit des Einzelnen als störende Abweichung normativer Erwerbsbiografien behandelt. Der Sozialstaat wird nicht repariert, sondern fundamental umgeschrieben – als Dienstleister eines permanenten Mangels, der nicht behebt, sondern normiert. Damit steht nicht nur die Integrität sozialstaatlicher Institutionen infrage, sondern die demokratische Legitimität selbst. 9. Was gebraucht würde: Eine sozialstaatliche Kurskorrektur Was also fehlt, ist nicht Disziplinierung, sondern Absicherung: Eine sanktionsfreie, armutsfeste Mindestsicherung, wie sie u. a. der Paritätische, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und Human Rights Watch fordern. Eine Regelsatzanung, die reale Lebenshaltungskosten abbildet, nicht statistische Schönrechnungen. Eine volle Erstattung der Wohnkosten, um Verdrängung und Wohnungslosigkeit zu verhindern. Ein Fokus auf Qualifikation statt Zwangsvermittlung, mit individueller Förderung, nicht standardisierten Maßnahmen. Ein Rehabilitations- statt ein Repressionsregime für erkrankte oder traumatisierte Menschen. 10. Fazit: Die neue Grundsicherung ist kein Fortschritt – sie ist die Refeudalisierung des Sozialen. In einer Zeit multipler Krisen bräuchte es eine starke soziale Infrastruktur. Was stattdessen geliefert wird, ist ein Regelwerk der sozialen Härte. Das Bürgergeld wird zur Zumutung – nicht allein für die Betroffenen, sondern für das demokratische Selbstverständnis dieses Landes. Titelbild: Bartolomiej Pietrzyk / Shutterstock
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Benachteiligung der AfD – Der Bundestag ist doch kein Ponyhof!
Benachteiligung der AfD – Der Bundestag ist doch kein Ponyhof!
Die Abgeordneten der AfD werden im Bundestag offensichtlich ungleich behandelt. Ob bei Ausschuss-Posten, Sitzungssälen oder beim „FC Bundestag“: Es entsteht der Eindruck der Unfairness. Das ist politisch kontraproduktiv, weil es Solidarität mit der AfD erzeugt, auch außerhalb der Partei. Zusätzlich entsteht ein problematischer Präzedenzfall, denn so ein Umgang kann künftig auch andere Politiker treffen. Außerdem ist es ganz einfach unanständig. Ein Kommentar von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Die AfD wird im Bundestag auf mehreren Ebenen ungleich behandelt. So werden die vorgeschlagenen AfD-Abgeordneten für die Posten von Bundestags-Ausschüssen nicht bestätigt – entgegen bisherigen Gepflogenheiten. Demnach stünden der AfD als größter Oppositionspartei und zweitgrößter Fraktion im Bundestag „eigentlich die Vorsitzposten von sechs Bundestagsausschüssen zu, darunter der wichtige Haushaltsausschuss“, wie die „Tagesschau“ schreibt, in dem Artikel gibt es weitere Infos zur den Verfahrensweisen. Eine weitere Ebene ist die Entscheidung, der AfD nicht den größeren Sitzungssaal im Bundestag zuzugestehen, den momentan noch die SPD nutzt, die ihn nicht räumen will, wie das ZDF beschreibt. Und sogar beim „FC Bundestag“ gibt es Widerstand dagegen, dass Abgeordnete der AfD mitspielen, wie es in diesem Artikel heißt. Ungleichbehandlung schließt die Reihen der AfD Das alles zusammen betrachtet, erscheint sehr fragwürdig, auch wenn durch das Verhalten wohl keine Gesetze berührt werden – und es ist kein Dienst an der Demokratie, die man damit doch angeblich schützen will. Immerhin sehen das auch einige Stimmen in den Mainstream-Medien so, etwa kritisiert die FAZ den Umgang zu den Ausschüssen und das Redaktionsnetzwerk Deutschland den Vorgang um die Sitzungssäle. Das Verhalten ist auch aus Sicht der der „etablierten Parteien“ politisch kontraproduktiv, weil es für Solidarität mit der AfD sorgt. Zum einen schließt es innerparteilich die Reihen. Aber auch außerhalb der Partei fehlt vielen Bürgern das Verständnis für die offensichtlich ungleiche Behandlung, zumal damit auch universelle Werte wie Anstand und Fairness berührt werden. So sorgt dieses Verhalten für Sympathien mit der Partei, auch dort, wo sie mit ihren Inhalten bisher nicht vordringen konnte. So ein absurder „Kampf gegen Rechts“ kann dafür sorgen, dass wir irgendwann tatsächlich eine AfD-Regierung haben könnten. Zusätzlich: Es ist nicht akzeptabel, wenn eine „radikale Mitte“ bestimmen will, welche gewählten Abgeordneten zu radikal für eine „normale“ Behandlung im Parlament sind. Der Bundestag ist kein Ponyhof In diesem Artikel geht es nicht um die politischen Inhalte der AfD, mit denen ich mich nicht gemein mache. Es geht stattdessen um rein formale Fragen und um ein wichtiges Prinzip: das der Gleichbehandlung. Wenn dieses Prinzip jetzt durch ganz offen unfaires Verhalten und zusätzlich mit aufreizender Selbstverständlichkeit beschädigt wird, dann trifft das zukünftig auch andere Gruppen. Dieser Hinweis soll wiederum nicht heißen, dass die AfD das benachteiligende Verhalten im Gegensatz zu anderen Gruppen jetzt „verdient“ hätte – es ist aber zusätzlich ein gefährlicher Präzedenzfall für die Zukunft. Der Bundestag ist kein Ponyhof, auf dem nach Tageslaune die Regeln geändert werden können, auch wenn diese nicht in Gesetzesform gegossen sind. Prinzipien, die „ausnahmsweise“ beschädigt werden dürfen, haben keinen prinzipiellen Wert. Der Bundestag muss auch keine konfliktfreie Wellness-Zone sein, wo man sich vom politischen Gegner einfach „abgrenzen“ kann, als gäbe es ihn und seine Millionen von Wählern nicht: Sagen die Kämpfer für „die Demokratie“ nicht selber immer, dass Demokratie anstrengend zu sein habe? Es drängt sich die (für viele Bürger längst beantwortete) Frage auf, wieso die stolzen Kämpfer für „die Demokratie“ immer öfter zu halbseidenen Tricks greifen müssen, um damit angeblich die Demokratie zu verteidigen. Können sie sich nicht auf dem politischen Feld und mit Inhalten wehren? Ein peinliches Schauspiel Das durch die eigene „Stillhaltezusage” vorerst auf Eis liegende „Gutachten“ des plötzlich als seriös und „unabhängig“ dargestellten Verfassungsschutzes (BfV) kann nicht die Grundlage und kein Freifahrtschein dafür sein, plötzlich selber die Regeln bestimmen oder gar verbiegen zu dürfen. Dass die Materialsammlung des BfV mit den jetzt gebetsmühlenartig beschworenen „über tausend Seiten“ ein politisch und gesellschaftlich kontraproduktives Vorgehen wie ein AfD-Verbot seriös begründen könnte, erscheint mir unwahrscheinlich. So ein Parteiverbot müsste außerdem als ein radikales Vorgehen bezeichnet werden und doch zeigt sich nun auch der SPD-Chef „offen“ dafür – mögliche Motive der SPD für diese Haltung hat Jens Berger gerade in diesem Artikel formuliert. Anstatt mit unnötigen Demütigungen und einem in der Vergangenheit nicht üblichen Umgang mit gewählten Abgeordneten aufzufallen, müssten doch die Kämpfer für „die Demokratie“ im Gegenteil mit leuchtendem Beispiel vorangehen und sich – gemäß ihren eigenen Phrasen – im Bundestag auch formal extra-korrekt verhalten. Sie sind doch die „Guten“, da müssen sie sich schon an den eigenen hochtrabenden Maßstäben messen lassen. Doch das Gegenteil iert momentan im Bundestag. Das ist nicht nur ein peinliches Schauspiel, es trifft auch indirekt die ganze Gesellschaft. Zum einen, weil es die AfD (voraussehbar!) stärker und stärker macht – und zum anderen, weil dieser auf höchster Bühne zelebrierte unanständige Umgang mit dem politischen Gegner den gesellschaftlichen Umgang allgemein beschädigen kann. Titelbild: AndryDj / Shutterstock Mehr zum Thema: AfD-Verbotsdebatte – ein geschicktes Manöver von SPD und Grünen? „Gutachten“ zur AfD: Plötzlich ist der Geheimdienst eine seriöse Quelle AfD-Verbotsdebatte: Man muss die Ursachen und nicht die Symptome bekämpfen Demos gegen Rechts: Wenn eine „Haltung“ absurd wird Wahlmotiv: Corona AfD-Erfolg: Wer hätte das denn ahnen können…?!
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„Bundeswehr soll konventionell zur stärksten Armee Europas werden“ – Egal, was es kostet
„Bundeswehr soll konventionell zur stärksten Armee Europas werden“ – Egal, was es kostet
Der neue Bundeskanzler Friedrich Merz machte in seiner ersten Regierungserklärung am 14. Mai 2025 seinem Ruf als teuerster Bundeskanzler aller Zeiten alle Ehre: Die Bundesregierung, so Merz, werde der Bundeswehr alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, die sie brauche, „um konventionell zur stärksten Armee Europas zu werden“. Dieses politische Ziel muss unter mindestens zwei verschiedenen Gesichtspunkten kritisch betrachtet werden: sicherheitspolitisch und finanzpolitisch. In diesem Beitrag geht es um die bisher kaum beachtete finanzpolitische Seite seiner Ankündigung. Von Alexander Neu. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Der Startschuss zum unbedingten Aufrüstungswillen fiel bereits bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 (SiKo), an der ich seinerzeit teilnahm. In einer konzertierten Aktion zwischen dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, dem damaligen Außenminister Franz-Walter Steinmeier und der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wurde eine stärkere Verantwortungsübernahme, so der euphemistische Begriff für militärisch basierte Machtpolitik, Deutschlands gefordert. Steinmeier brachte es auf der SiKo mit der berühmt gewordenen Metapher „Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren“ zum Ausdruck. Mit dieser Aussage formulierte er nichts weniger als einen globalen Gestaltungsanspruch für Deutschland. Der Gestaltungsanspruch muss natürlich auch – vor allem, wenn dieser mit militärischem Potenzial gestützt werden soll – finanziert werden. Und hier kommt der Steuerzahler ins Spiel. Denn es geht darum, dass die Machtphantasien einiger weniger von vielen, nämlich den Steuerzahlern, bezahlt werden müssen, ohne dass die Lebensverhältnisse sich für die Masse der Bevölkerung verbessern. Im Gegenteil: Jeder Euro, der für das Militär ausgegeben wird, muss an anderer Stelle eingespart werden, entweder direkt durch Streichungen in anderen Einzelplänen des Bundeshaushaltsplans oder aber durch Tilgung der Schulden und Zinsen bei Kreditierung der Militärausgaben, was ebenfalls zu Lasten des Bundeshaushaltsplans geht. So beläuft sich die im neuen Regierungsentwurf 2025 für das Jahr 2026 festgesetzte Schuldenbedienung („Bundesschuld“) auf 33,2 Milliarden Euro. Das sind 10,2 Prozent des Bundeshaushaltes allein für die Abzahlung der Schulden – Tendenz steigend. Wenige Monate nach der konzertierten Aktion auf der Münchner SiKo begannen einige Leitmedien, die Bundeswehr arm zu schreiben. Nichts funktioniere mehr. Bei Manövern müsse mit Besenstielen das Kanonenrohr simuliert werden („Bundeswehr zieht mit Besenstielen in Manöver“, so die Überschrift eines Massenmediums) und Unterwäsche und Socken fehlten. Ziel war und ist, die Bevölkerung über den angeblich defizitären Zustand der Bundeswehr zu empören und die Bereitschaft des Steuerzahlers, höhere Militärausgaben zu akzeptieren. Und tatsächlich wurde das Thema dann im Verteidigungsausschuss ganz oben angesetzt. Seit 2014 bis jetzt erfahren die Militärausgaben massive Aufwüchse. Quelle: Alexander Neu Bei der Analyse der Militärausgaben darf man sich nicht täuschen lassen, wenn die Bundesregierung oder manche Medien von den Ausgaben des Einzelplans 14, des Finanzplans für die Bundeswehr, reden. Tatsächlich sind einige Ausgaben nicht in diesem Einzelplan, sondern auch in anderen Einzelplänen des Bundeshaushaltsplans versteckt. Alle Ausgaben, die einen militärischen Bezug ausweisen und jenseits des Einzelplans 14 im Bundeshaushaltsplan versteckt sind, nennt man Militärausgaben nach „NATO-Kriterien“. Die Summe der Militärausgaben ist insbesondere ab 2022 stark angestiegen. Hintergrund ist das sogenannte „Sondervermögen“ für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro zusätzlich im Kontext des offenen Russland-Ukraine-Krieges. Es handelt sich dabei indes nicht um ein Vermögen, sondern um zusätzliche Schulden, die wie selbstverständlich an der Schuldenbremse qua Verfassungsänderung vorbei gemacht wurden. Hierzu wurde Artikel 87a um folgenden Teilabsatz ergänzt: „(1a) Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit kann der Bund ein Sondervermögen für die Bundeswehr mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten. (…).“ Der euphemistische Begriff des „Sondervermögens“ statt Sonderschulden ist unter „Sand in die Augen des Steuerzahlers streuen“ zu verbuchen. Schulden als Vermögen zu deklarieren, ist schon eine besondere Form der Realitätskonstruktion in der Politik. Und auch die Formulierung „einmalig“ ist nun Geschichte. Denn mit dem neuesten Coup des damals designierten und nun amtierenden Bundeskanzlers Friedrich Merz wurden am 18. März erneut die Verfassungshürden für weitere Verschuldungen (Aushebelung der Schuldenbremse) mit entsprechender Zweidrittelmehrheit des noch alten, abgewählten Bundestages zu verändern, Tür und Tor für die von ihm angekündigten unbegrenzten Militärausgaben geöffnet. Mit der Verfassungsänderung, die zwar auch Finanzen zur Sanierung der maroden Infrastruktur für Bund und Länder sowie zur Erreichung des Klimaziels in Höhe von 500 Milliarden Euro beinhaltet (Artikel 143h Grundgesetz), werden die Kreditaufnahmemöglichkeiten für die ambitionierte Finanzierung der Bundeswehr nicht in einem Fixbetrag formuliert, sondern prozentual. In Artikel 109 Grundgesetz wird festgehalten: Alle Militärausgaben, die mehr als ein Prozent des jeweiligen Jahres-BiPs übersteigen, können an der Schuldenbremse vorbei mit Krediten finanziert werden, und das ganz ohne Obergrenze. Wenn nun der US-Präsident Donald Trump fünf Prozent des BiP für Militärausgaben fordert und die gegenwärtigen Äußerungen von Vertretern der Bundesregierung irgendetwas zwischen 3,5 bis fünf Prozent anvisieren, bedeutet das Folgendes: Wenn das deutsche BiP im Jahre 2026 4,4 Billionen Euro betrüge (2024 lag es bei 4,3 Billionen Euro), so stiegen die Militärausgaben bei 3,5 Prozent auf 150,5 Milliarden Euro. Von diesem Betrag würden 44 Milliarden Euro aus dem Steuersäckel direkt und 106,5 Milliarden Euro über Kredite, also Schulden, finanziert werden. Bei fünf Prozent des BiPs an Militärausgaben wären es 215 Milliarden Euro. Davon müssten 171 Milliarden Euro kreditiert werden. Und diese Schuldenaufnahmen sind nicht einmalig, sondern jährlich. Um die Belastung für den Bundeshaushalt selbst umzurechnen, ist folgendes Rechenmodell realitätsnah: Nimmt man den Haushaltsentwurf für den Bundeshaushalt 2025 mit 488,6 Milliarden Euro als Maßstab, so betrügen die Militärausgaben bei 3,5 Prozent des BiPs rund 30 Prozent des Bundeshaushaltes, also fast ein Drittel. Bei fünf Prozent des BiPs betrügen die Militärausgaben 40 Prozent des Bundeshaushaltes. Mehr noch, diese „Sondervermögen“, realiter Schulden, müssen mit Zinsen zurückgezahlt werden. Damit werden angesichts sich stets verändernder Zinsbeträge die Belastungen für den Steuerzahler nahezu unberechenbar. Die Mehrkosten müssen selbstverständlich in anderen Bereichen des Bundeshaushaltes eingespart werden. Man darf auf die Kürzungen in künftigen Bundeshaushalten gespannt sein. Auftraggeber und Auftragnehmer – oder, wer ist Koch, wer ist Kellner? Einen nicht unerheblichen Teil der Militärausgaben umfasst die Entwicklung und Beschaffung von Waffensystemen. Hierbei zeigt sich ein seit Jahrzehnten praktizierter Selbstbedienungsladen der Rüstungsindustrie. Diese gibt die Kosten vor und der Steuerzahler zahlt via Bundesregierung, hier des Bundesverteidigungsministeriums. Da die verschiedenen Sparten der deutschen Rüstungsindustrie bisweilen auf dem deutschen Markt eine Monopolstellung innehaben, erlauben sie es sich, dem Auftraggeber die Konditionen zu diktieren. Mehr noch: Selbst von den ohnehin zum Nachteil des Steuerzahlers festgelegten Konditionen können die Rüstungsunternehmen diese ihrerseits nahezu straffrei brechen. Hierbei ist ein unsäglicher Dreiklang zu beobachten: Die Kosten für ein neues Waffensystem steigen massiv an im Vergleich zu den ursprünglich ausgehandelten Beträgen, die Auslieferung der Waffensysteme verzögert sich – manchmal um Jahre –, und sie erfüllen sehr häufig nicht die vertraglich festgelegten Leistungsmerkmale. Kurzum: schlechtere Qualität zu höheren Kosten und zu einem späteren Zeitpunkt. Angesichts kostbarer Steuergelder sollte der Steuerzahler zu Recht davon ausgehen, dass die Bundesregierung – hier das Bundesverteidigungsministerium – als Auftraggeber den Daumen draufhat. Das heißt, dass die Bundesregierung für verspätete Lieferungen und Leistungsdefizite des gelieferten Waffensystems beträchtliche Vertragsstrafen gegen das entsprechende Rüstungsunternehmen in den Verträgen festgelegt haben sollte. Die Wirklichkeit sieht indes anders aus. In einer Antwort der Bundesregierung („Kostenentwicklung bei Großwaffensystemen“ – Drucksachennummer 18/650) auf eine von mir im Jahre 2014 eingebrachte Kleine Anfrage wird überaus deutlich, dass es bei den angefragten Großwaffensystemen entweder keine vertraglich festgelegten Vertragsstrafen gab oder aber in einem sehr überschaubaren, an Lächerlichkeit grenzenden Umfang. Und selbst dann wurden diese häufig auch nicht eingefordert. Zwar mag man einwenden, dass diese Anfrage ja bereits elf Jahre alt sei und dass das Bundesverteidigungsministerium angesichts der Anfrage noch im Jahr 2014 ein sogenanntes Rüstungsboard geschaffen hat, bei dem unter anderem die Bundestagsabgeordneten im Haushalts- und Verteidigungsausschuss mehr Transparenz über die Gelder erhalten. An der defizitären Beschaffungspolitik zu Lasten des Steuerzahlers hat dies tatsächlich zu keiner grundlegenden Veränderung geführt. Wenn es der Bundeswehr an Geldern und Material fehlen sollte, so wäre es doch naheliegend, zunächst einmal die Ausgabenseite hinsichtlich der Rüstungsindustrie in den Griff zu bekommen. Die Bundesregierung als Auftraggeber muss letztlich die grundlegenden Konditionen bestimmen, nicht der Auftragnehmer. Dann wären auch mehr Gelder für die Bundeswehr vorhanden und der Steuerzahler weniger strapaziert. Leider ist ein finanzpolitisches Umdenken der Merz-Regierung nicht zu erwarten. Titelbild: Shutterstock / Mehaniq Mehr zum Thema „Im Westen nichts Neues“ – die Not-GroKo und ihr Koalitionsvertrag Der Souverän und seine Volksvertreter – Plädoyer für die Demokratisierung der Demokratie Traut Euch und durchbrecht die Schweigespirale! EU-Europäische Emanzipation – Feindbildproduktion und Aufrüstung als neuer Integrationskitt?
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Karlspreis: Gegründet von einem elitären Zirkel ehemaliger NSDAP- und SA-Mitglieder, und als Namensgeber dient...
Karlspreis: Gegründet von einem elitären Zirkel ehemaliger NSDAP- und SA-Mitglieder, und als Namensgeber dient...
„Für ihr herausragendes Engagement für Einheit, Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit Europas wird Ursula von der Leyen mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen 2025 ausgezeichnet.“ So lautet die offizielle Begründung für die Verleihung des Preises am morgigen 29. Mai an die Präsidentin der Europäischen Kommission. Sie hätte „ob in der Pandemie, im Umgang mit dem russischen Angriffskrieg oder bei der Stärkung der europäischen Wirtschaft – mit Entschlossenheit und strategischem Weitblick“ die Interessen Europas vertreten und „entscheidende Weichen für die Zukunft“ gestellt. Anlass für die NachDenkSeiten, sich mit den politischen, ideologischen und auch historischen Hintergründen dieses Preises zu beschäftigen. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Dieser Artikel liegt auch als gestaltetes PDF vor. Wenn Sie ihn ausdrucken oder weitergeben wollen, nutzen Sie bitte diese Möglichkeit. Weitere Artikel in dieser Form finden Sie hier. „Sachsenschlächter“ Karl der Große als Namensgeber „Sterben soll, wer Heide bleiben will“ – unter diesem Leitmotiv überzog der Namensgeber des Preises, Karl der Große, vier Jahrzehnte lang einen Großteil Europas mit Krieg. Besonders blutig gestaltete sich dabei die mit Waffengewalt erzwungene Christianisierung des damaligen Sachsenreiches, die sogenannten „Sachsenkriege“ in den Jahren 772 bis 804 nach unserer Zeitrechnung, denen Abertausende Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Als selbst für die damalige Zeit außergewöhnlich grausam wird in diesem Zusammenhang in den Reichsannalen (Annales regni Francorum) auf das „Blutgericht von Verden“ im Jahr 782 verwiesen. Laut diesen Aufzeichnungen über Ereignisse im Fränkischen Reich des 8. und 9. Jahrhunderts sollen allein an einem Tag 4.500 unbewaffnete Sachsen auf direkten Befehl Karls enthauptet worden sein. Die aktuelle Geschichtswissenschaft geht mehrheitlich davon aus, dass die Angaben zur Verantwortung von Karl dem Großen für das Massaker korrekt sind. Karl als historisches Vorbild für Hitler und Namensgeber einer SS-Division Die historische Rolle Karls des Großen und die von ihm mit Gewalt geschaffene „Einigung“ eines signifikanten Teils Europas zu einem „Reich“ wurde propagandistisch entsprechend vom NS-Regime genutzt. So bezeichnete beispielsweise Adolf Hitler Karl den Großen regelmäßig „als eine der größten Persönlichkeiten der Weltgeschichte“, da dieser die deutschen Stämme vereinigt hätte („… die deutschen Querschädel zueinander zu bringen“). Dass diese Einschätzung nicht alle in der NS-Nomenklatura so teilten, bezeugt die Erklärung des NS-Diktators am 31. März 1942, er habe sich gegenüber dem NSDAP-Chefideologen Alfred Rosenberg verbeten, „einen Heroen wie Karl den Großen als ‚Karl den Sachsenschlächter‘ zu bezeichnen“. Josef Grohé, Gauleiter des Gaus Köln-Aachen, erklärte bei einer Feierstunde im April 1942 anlässlich der groß aufgezogenen Feierlichkeiten zum zwölfhundertsten Geburtstag Karls des Großen, die von ihm gegründete Kaiserpfalz Aachen sei der „Ausgangspunkt für die Herausbildung des deutschen Volkes“ gewesen. Die 33. Waffen-Grenadier-Division der SS, aus deren Reihen die letzten fanatischen Verteidiger der Reichskanzlei sowie des SS-Hauptquartiers in den Kämpfen um Berlin Ende April 1945 stammten, trug den Namen des fränkischen Kaisers.  Natürlich wäre es albern, hier per se eine Kontaktschuld zu konstruieren, nur weil Hitler und andere NS-Größen sich äußerst positiv auf eine geschichtliche Persönlichkeit des Frühmittelalters bezogen haben. In der Gesamtschau bleibt aber dennoch festzuhalten, dass sich die Gründer des Karlspreises (darunter mehrere NSDAP-Mitglieder) nur vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs dafür entschieden, einen Preis auszuschreiben „für Dienste der westeuropäischen Verständigung, der Humanität und des Weltfriedens“, und dafür ausgerechnet eine Persönlichkeit wählten, die zum einen offensiv vom NS-Regime propagandistisch instrumentalisiert worden war und zum anderen sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie während ihrer gesamten 46-jährigen Regentschaft (768 bis 814) fast pausenlos (Angriffs-)Kriege in Europa führte, unter anderem gegen Sachsen, Spanien, Italien und die Awaren. Die „illustren“ Gründer des Karlspreises aus NSDAP, SA und dem NS-Dozentenbund Initiiert und gegründet wurde der Karlspreis vom Aachener Textilunternehmer Kurt Pfeiffer. Auf der offiziellen Website des „Internationalen Karlspreises zu Aachen“ liest sich das so:  „In dieser Zeit des Umbruchs gründete der Aachener Textilkaufmann Dr. Kurt Pfeiffer den Lesekreis Corona Legentium Aquensis. Dieser bot Intellektuellen, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden eine Plattform für den freien Austausch – ein dringend benötigter Neuanfang nach Jahren der geistigen Isolation.“ (…) Am 19. Dezember 1949, kurz vor Weihnachten und dem von Papst Pius XII. ausgerufenen Heiligen Jahr, stellte Pfeiffer im Suermondt Museum seine Vision eines internationalen Aachener Europa-Preises vor.“ (Anmerkung FW: Pfeifer war überzeugter Protestant, man fragt sich, was die für den Text Verantwortlichen bewogen hat, in diesem Zusammenhang so prominent auf Papst Pius XII. zu verweisen). Was man aus den dortigen Ausführungen aber mit keiner Silbe erfährt, ist die Tatsache, dass besagter Dr. Kurt Pfeiffer direkt nach Machtantritt der Nazis 1933, wenn wohl auch laut seiner eigenen Darstellung nur aus kaufmännischem Opportunismus heraus, der NSDAP beitrat („Hätte ich mich geweigert, wäre ich unangenehm aufgefallen“). Laut dem US-Geheimdienstoffizier Saul Kussiel Padover („Office of Strategic Services“), der Pfeiffer nach der Befreiung Aachens Ende 1944 verhörte, soll dieser zudem noch Mitglied in fünf weiteren NS-Organisationen gewesen sein. Allerdings schreibt Padover in seiner Rückschau „Lügendetektor – Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45“ auch: „Stadtkämmerer Kurt Pfeiffer, ein distinguierter Textilkaufmann, war Parteigenosse. Erstaunlicherweise vertrat er weniger reaktionäre Ansichten als die meisten seiner Kollegen, die nicht in der Partei waren. Mit einem Jahreseinkommen von 80.000 Mark war es ihm unter Hitler recht gut gegangen. Ob er nun die Wahrheit sagt oder nicht, Herr Pfeifer hörte sich jedenfalls nicht wie ein Nazi an.“ Ein weiteres Gründungsmitglied des Karlspreises sowie des Karlspreisdirektoriums war der aus einer bekannten Aachener Fabrikantenfamilie entstammende Philosophieprofessor Peter Mennicken. Dieser trat am 1. September 1933 dem Nationalsozialistischen Lehrerbund sowie am 1. November 1933 der SA und etwas später der NSDAP bei. Ab 1939 übernahm Mennicken neben seiner Professorentätigkeit noch die Leitung des Presseamtes des Nationalistischen Deutschen Dozentenbundes. Zudem war er für die NS-Geheimorganisation „Mittelstelle für Heimatschutz“ tätig, in deren Auftrag er die Neuordnung der universitären Ausbildung in den besetzten westlichen Nachbarländern organisieren sollte.  Ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern des Karlspreises gehörte der damalige Aachener Oberstadtdirektor Albert Servais. Dieser wird in einer Auflistung des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD) als Mitglied der NSDAP geführt, allerdings mit dem Vermerk versehen, er sei „heute noch katholisch gebunden“. Servais’ eigener Sohn spricht wiederum davon, dass sein Vater „förderndes Mitglied der SS“ gewesen sei. Der Rest der insgesamt zwölf Gründungsmitglieder setzte sich vor allem aus Großindustriellen und Kadern der neu gegründeten CDU zusammen. Doch auch davon erfährt der geneigte Leser in der Kategorie „Geschichte und Ursprung“ auf der offiziellen Website des Karlspreises nichts. Dort werden von den zwölf Gründungsmitgliedern nur folgende vier als „Die damaligen Hauptakteure“ erwähnt: Die politisch-ideologische Ausrichtung des Karlspreises Der Karlspreis war von Beginn an als ein gegen den sowjetischen Raum gerichtetes Propagandainstrument im beginnenden Kalten Krieg gedacht. An dieser Ausrichtung des Preises ließ der Initiator, das ehemalige NSDAP-Mitglied Pfeiffer, keinen Zweifel aufkommen. In seinem Appell an die Aachener Bevölkerung zur Ausrufung des Karlspreises am 19. Dezember 1949 erklärte er:  „Der Machtzuwachs des Ostens ist ins Gigantische gewachsen und wir wissen nicht, wo die Expansion halt machen wird. Die Position der westlichen Mächte ist äußerst schwach. Deshalb muss die Öffentlichkeit auf ihre Selbstverantwortung im Schicksalskampf aufmerksam werden. Es geht um die Rettung der abendländischen Kultur. Der Grenzstadt Aachen kommt dabei eine besondere Rolle zu. Aachen war einmal geistiges und politisches Zentrum des ganzen westeuropäischen Raumes von den Pyrenäen bis zur slawischen Sprachgrenze.“ Der Karlspreis als Werkzeug im „Schicksalskampf“ gegen die gigantisch böse Macht im Osten zur „Rettung der abendländischen Kultur“. Zeitgeist hin oder her, diese völkisch grundierte Sprache einer Rede, die laut WDR „die Geburtsstunde des sogenannten Internationalen Karlspreises zu Aachen markiert“, spricht für sich. Dieses Leitbild des angeblichen Schicksalskampfes gegen „den Osten“ lässt sich gut auch an der Vergabepraxis des Karlspreis-Direktoriums ablesen. Bisherige Preisträger: Kriegsverbrecher und Kalte Krieger Während CDU-Spitzenpolitiker, die für eine offene Systemkonfrontation standen, den Karlspreis erhielten, wurden die sozialdemokratischen Kanzler, die eher für eine neue und auf Entspannung setzende Ostpolitik standen, bewusst übergangen.  „Willy Brandt – dieser Name war undiskutierbar!” Mit diesen Worten zitiert der SPIEGEL 1987 ein Direktoriumsmitglied auf die Frage, wieso zwar ein Walter Hallstein (Begründer der nach ihm benannten „Hallstein-Doktrin“), ein Konrad Adenauer, ein Carl Carstens oder ein Henry Kissinger den Karlspreis erhielten, nie aber Brandt als Begründer der neuen Ostpolitik. Auch Helmut Schmidt wurde bei der Preisvergabe explizit ignoriert.  Bezeichnend auch, wen und mit welcher Begründung das Direktorium zu Beginn von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion und einer zunehmenden Entspannungspolitik etwa als Preisträger für das Jahr 1987 aussuchte:  „Henry Kissingers Name ist das Symbol der Politik der Entspannung, des Friedens, der Abrüstung und der Partnerschaft. Daher hat das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen beschlossen, Ihnen, Herr Professor Dr. Kissinger, den Karlspreis für das Jahr 1987 zu verleihen.“ Das muss man Ende der 1980er-Jahre erst mal so bringen: Ausgerechnet den Mann als „Symbol der Politik der Entspannung und des Friedens“ zu bezeichnen, der bereits 1957 als Berater der US-Behörde für Waffenentwicklung beim Vereinigten Generalstab einen auf Europa begrenzten Nuklearkrieg propagierte sowie unter anderem in seiner Rolle als Nationaler Sicherheitsberater maßgeblich den blutigen Putsch in Chile gegen Salvador Allende ebenso wie die massive Ausweitung des Vietnamkrieges inklusive der völkerrechtswidrigen Massenbombardierungen und späteren Invasion in Kambodscha zu verantworten hatte und in seiner Rolle als US-Außenminister grünes Licht gab für die Durchführung der koordinierten Terrormaßnahmen im Zuge der „Operation Condor“ in Südamerika sowie für die Invasion und darauffolgenden Massenhinrichtungen in Osttimor durch die indonesische Armee unter dem Diktator Suharto.  Dass es sich bei dem Karlspreisträger Kissinger um einen Kriegsverbrecher handelt, räumten im Rückblick selbst enge Mitarbeiter von ihm ein. So sagte beispielsweise der Außenpolitik-Analyst Roger Morris Folgendes über seinen langjährigen Chef im Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten: „Wenn wir Henry Kissinger nach den gleichen Maßstäben beurteilen, wie wir es mit den anderen Staatschefs und Politikern in anderen Gesellschaften getan haben, zum Beispiel in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg, dann wird er sicher irgendwann als Kriegsverbrecher verurteilt werden.“ Doch Kissinger ist bei Weitem nicht der einzige mit dem Karlspreis geehrte Kriegsverbrecher. Vielsagend auch die Begründung für die Verleihung des Preises an den damaligen britischen Premierminister Tony Blair im Jahr 1999 für (!) „sein entschlossenes Handeln in der Kosovo-Krise, in der er den US-Präsidenten Clinton von einer klaren Haltung der NATO gegenüber Slobodan Milošević überzeugte und Grundzüge einer neuen Doktrin für die internationale Gemeinschaft festlegte“. Karlspreis für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg (im NATO-Jargon „Operation Allied Force“), der zur Zerstörung eines Großteils der zivilen Infrastruktur Restjugoslawiens führte.  In der Laudatio zur Preisverleihung an Blair heißt es dazu: „Daher führen wir einen Kampf für die Zivilisation, für unsere europäische Zivilisation! Ein Kampf, in dem wir Gewalt so lange anwenden werden, bis die Verhandlungen wieder beginnen können, die allein geeignet sind, zu einer langfristigen politischen Lösung zu führen.“ An Zynismus kaum zu übertreffen ist auch die Inschrift auf der an Blair überreichten Karlspreis-Medaille, in die als angebliche Leistung Blairs eingraviert ist:  „Frieden und Zusammenwachsen in Europa“ Ein Jahr später war dann Bill Clinton der Preisträger; jener US-Präsident, der, neben der Hauptverantwortung für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Republik Jugoslawien, kurz vor Weihnachten 1998 – nach allgemeiner Einschätzung vor allem aus innenpolitischen Erwägungen heraus, um von dem drohenden Amtsenthebungsverfahren abzulenken – einen umfassenden und nicht UN-gedeckten Luftangriff gegen den Irak befahl. „Ohne Verzögerung, Diplomatie oder Warnung“, so hatte es der gekarlspreiste US-Präsident seinem damaligen Lieblingsfeind Saddam Hussein öffentlich angedroht und umgesetzt. Es handelt sich bei dem Karlspreis laut Eigendarstellung, das sollten wir uns nochmals in Erinnerung rufen, vorgeblich um einen „Preis (…) für den wertvollsten Beitrag im Dienste der Humanität und des Weltfriedens”.  Aktenfreigabe unerwünscht Vor diesem skizzierten Hintergrund verwundert es nicht, dass sich das Direktorium laut einem Bericht der Aachener Nachrichten wegen „Bedenken (…) um politische Verwicklungen“ gegen eine umfassende Öffnung der Archive (Protokolle, Abstimmungsunterlagen etc.) rund um die Karlspreisverleihungen verwehrt:  „Um allen politischen Verwicklungen aus dem Weg zu gehen, sollen daher die Akten aus den letzten 30 Jahren erst einmal ungenutzt bleiben.“ Fazit Es sagt wohl einiges über die Verfasstheit der Europäischen Union aus, dass der mutmaßlich „renommierteste“ Preis für Dienste zur „europäischen Einigung“ den Namen eines Kaisers trägt, der gegen seine Nachbarn im Osten, Süden und Westen über Jahrzehnte Krieg führte und dessen Initiatoren aus der Aachener Oberschicht wie dargelegt zu relevanten Teilen aktive Mitläufer im NS-Regime waren und den Karlspreis bewusst als Instrument im „Schicksalskampf (…) um die Rettung der abendländischen Kultur“ gegen den „Osten“ ins Leben riefen. Dass dieses schon damals reaktionäre Leitmotiv des Preises nicht beschränkt war auf die Anfangsjahre des Karlspreises, bezeugen die aktuellen Veröffentlichungen auf der offiziellen Website des „Internationalen Karlspreises zu Aachen“, in denen nach wie vor unter anderem von der „Idee des christlichen Abendlandes als Leitgedanke für die künftige politische und wirtschaftliche Einigung Europas“ die Rede ist.  An der offensichtlich nötigen kritischen Aufarbeitung und Reformierung angesichts der einseitigen politischen Ausrichtung und intransparenten Auswahlprozesse zeigt sich das Direktorium – siehe beispielhaft die Verweigerung, die Karlspreis-Akten der letzten 30 Jahre zu veröffentlichen – in keiner Form interessiert. Der bis zum heutigen Tage proklamierte „abendländische Schicksalskampf“ der Organisatoren des Aachener Karlspreises erlaubt wohl keine kritische Reflexion des eigenen Tuns. Mit dieser Haltung sind sie wiederum tatsächlich ein gutes Sinnbild der aktuellen EU-Eliten um Ursula von der Leyen und ihrer desaströsen Eskalationspolitik. Anmerkung der Redaktion: Der Artikel ist eine aktualisierte und mit neuen Recherchen vertiefte Version eines Artikels von 2023. Titelbild: Screenshot Preisträgerin 2025 Mehr zum Thema: EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen wird mit dem Karlspreis geehrt – wegen ihrer Verdienste? Karlspreis für Ursula von der Leyen – Gratulation! Einsatz für Menschenrechte bei Aachener Karlspreisverleihung unerwünscht Karlspreis für das Kriegs-Maskottchen (und noch mehr Preis-Propaganda …)
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Feuer frei auf Russland: Bundeskanzler Merz setzt Deutschland Kriegsgefahr aus
Feuer frei auf Russland: Bundeskanzler Merz setzt Deutschland Kriegsgefahr aus
Wo politische Vernunft und Anstand enden, beginnt die deutsche Russlandpolitik. Gestern gab Friedrich Merz bekannt, dass es keine Reichweitenbeschränkung mehr für von Deutschland an die Ukraine gelieferte Waffen gibt. Damit kann die Ukraine nun Ziele tief in Russland treffen. Merz machte die Entscheidung auf einem Podium sitzend bei einer Veranstaltung öffentlich – und nicht etwa im Parlament, wo etwas so Weitreichendes hingehört. Merz‘ Auftreten folgt einem Kalkül. Ein Kommentar von Marcus Klöckner. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Friedrich Merz besuchte am Montag das Internationale WDR Europaforum in Berlin. Dort setzte er sich zum Gespräch mit einem Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf ein Podium und sagte: „Es gibt keinerlei Reichweitenbeschränkungen mehr für Waffen, die an die Ukraine geliefert worden sind.“ Mimik und Gestik wirken – Merz typisch – so, als spräche hier einer eine banale Selbstverständlichkeit aus. Doch in Wirklichkeit hat Merz eine politische Bombe platzen lassen. Denn die Aussage von Merz bedeutet zweierlei. Erstens gestattet die Bundesrepublik Deutschland nun der Ukraine, Ziele tief im Innern Russlands mit deutschen Waffen zu treffen. Zweitens liegt es nahe, dass Deutschland der Ukraine auch Taurus-Raketen liefern wird – oder haben Politiker hinter den Kulissen bereits Taurus freigegeben? Die Frage drängt sich zumindest auf, wenn man berücksichtigt, dass erst vor kurzem bekanntgegeben wurde, man wolle aus strategischen Gründen nicht mehr öffentlich kommunizieren, welche Waffen der Ukraine zur Verfügung gestellt werden. Ob mit oder ohne Taurus: Diese Entscheidung trifft Russland. Und das auf eine dumme Weise, die Diplomatie, Vernunft und auch dem politischen Anstand trotzt. Dumm deshalb, weil diese Entscheidung Russland ohnehin nicht so weit schwächen kann, dass das Land den Krieg zu den Bedingungen der NATO akzeptieren würde. Und dumm deshalb, weil auf diese Weise eine noch weitere Eskalation zu erwarten ist. Wobei hier rasch einzuschränken ist: Von „Dummheit“ zu sprechen, wäre gefällig. Denn: So dumm kann die Regierung samt ihrer klugen Zuträger gar nicht sein, um diese einfachen Einsichten zu verkennen. Anders gesagt: Die Entscheidung verbreitet förmlich jenen Geruch, der seit langem die Beziehungen zwischen westlicher und russischer Politik umgibt. Es ist der Geruch eines Feuers, das immer weiter angefacht wird. Echte Diplomatie scheint nicht gewollt. Dass bei diesem politischen Grundtakt eine anstandslose Politik herauskommt, ist erwartbar. In Anbetracht von Millionen durch die Wehrmacht getöteter russischer Soldaten und Zivilisten im 2. Weltkrieg ist die aktuelle Entscheidung ein weiterer Akzent einer Politik von historischer Asozialität. Deutsche Panzer im Kampf gegen Russen? Längst Realität. Deutsche Waffen im Kampf gegen russische Soldaten? Längst Realität. Deutsche, weitreichende Waffensysteme, die Ziele tief in Russland treffen? Das wird nun zur Realität. Der deutschen Politik darf man eines nicht unterstellen: Ahnungslosigkeit. Das wird auch noch mal durch den Auftritt von Merz deutlich. Politik, das wissen wir alle, ist auch Inszenierung. Politik ist Kalkül. Merz‘ Auftritt auf dem Europaforum zeigt beides deutlich. Nach außen wirkt der Auftritt von Merz so, als ginge es bei der Entscheidung, die begrenzte Reichweite der Waffen aufzuheben, um eine Petitesse. Das ist sie aber keinesfalls. Im Gegenteil: Im schlimmsten Fall könnte die Entscheidung Deutschland in einen Krieg mit Russland ziehen. Mit anderen Worten: Viel weitreichender als das, was Merz gesagt hat, geht es kaum. Und genau deshalb verkündet Merz die Nachricht an einem Ort und in einem Präsentationsmodus, der die Ungeheuerlichkeit der Aussagen abdämpft und letztlich zu verschleiern versucht. Eine Entscheidung, die unterm Strich das Leben von über 80 Millionen Bundesbürgern betrifft, gehört in das Parlament. Unfreiwillig unterstreicht Merz hier etwas, was ohnehin vielen längst klar ist: Die deutsche Russlandpolitik, die Politik der Kriegstüchtigkeit und die Politik der Waffenlieferungen geht an den Interessen Deutschlands vorbei. So gesehen ist es nur konsequent, dass die Bekanntgabe der Entscheidung außerhalb des Bundestages erfolgt. Titelbild: Ryan Nash Photography / Shutterstock
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Wer ist eigentlich der Verfassungsfeind?
Wer ist eigentlich der Verfassungsfeind?
In den Vereinigten Staaten vollzieht sich unter der Präsidentschaft von Donald Trump derzeit ein umfassender innen- und außenpolitischer Wandel. Im ersten Teil wurde die Auswirkung der Neuausrichtung der US-Außenpolitik auf die politische Agenda europäischer Staaten näher beleuchtet. In diesem zweiten Teil wird näher auf die Hintergründe und die Folgen der US-Wirtschaftspolitik eingegangen. Zudem stellt sich aufgrund ähnlicher gesellschaftlicher Herausforderungen in den USA und Europa die Frage, inwieweit die politische Entwicklung in den Vereinigten Staaten eine Blaupause für zukünftige Wahlausgänge in Europa ist. Von Karsten Montag. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Um es vorwegzunehmen: Die Frage im Titel, wer eigentlich der Verfassungsfeind ist, wird in diesem Beitrag nicht abschließend geklärt. Es deutet sich jedoch anhand einer näheren Betrachtung der Entwicklung von Vermögen und Haushaltsdefiziten in den USA und Deutschland an, wie man die Frage womöglich beantworten könnte. Außenhandelsdefizit und Staatsschulden der Vereinigten Staaten US-Präsident Donald Trump hat das Absenken des Außenhandelsdefizits und der Staatsausgaben zu den Hauptzielen seiner Wirtschaftspolitik gemacht. Er hat die Folgen des seit Jahrzehnten wachsenden Außenhandelsdefizit als „nationalen Notstand“ erklärt. Die bisherige Wirtschaftspolitik hätte zu einer Aushöhlung der US-Produktionsbasis geführt, kritische Versorgungsketten untergraben und die verteidigungsindustrielle Basis von ausländischen Gegnern abhängig gemacht. Das Ungleichgewicht zwischen Ein- und Ausfuhren habe Länder wie China gestärkt und Amerikas Mittelschicht und Kleinstädten geschadet, so das Weiße Haus. Mit Zöllen auf die Einfuhr von Waren und Dienstleistungen will Trump die internationale Wirtschaftsposition der Vereinigten Staaten stärken und amerikanische Arbeitnehmer schützen. Die seit 2008 steigende Schuldenquote (Staatsschulden im Verhältnis zum BIP) der USA, die aktuell bei 124 Prozent liegt, hat bereits zu Abwertungen der Kreditwürdigkeit des Landes durch mehrere Rating-Agenturen geführt. Eine ähnlich hohe Schuldenquote in Kombination mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistungen hatte 2010 die griechische Staatsschuldenkrise ausgelöst. Die Rating-Agenturen hatten die Kreditwürdigkeit des Landes so weit heruntergestuft, dass sich die griechische Regierung nur noch gegen hohe Zinsen Geld leihen konnte. Es drohte der Staatsbankrott. Die US-Regierung unter Trump hat im Haushaltsplan für 2026 eine Kürzung der Staatsausgaben in den Ressorts abseits der Landesverteidigung um 163 Milliarden Dollar vorgesehen. Dies entspräche einer Absenkung im Vergleich zum Haushalt für 2025 um 23 Prozent. Die Ausgaben für eine „schädigende woke, marxistische Agenda“ und für Auslandshilfen sollen radikal gekürzt werden, so die Worte des Weißen Hauses. Gleichzeitig sollen die Ausgaben für die Verteidigung um 13 Prozent und die Ausgaben für den Heimatschutz um 65 Prozent steigen. Ein wichtiges Element zur Senkung der Staatsausgaben ist die neu eingerichtete Kommission „Department of Government Efficiency“ (DOGE), die de facto von dem Multimilliardär Elon Musk geleitet wird. Ein Blick auf die entsprechenden Kennzahlen zeigt zunächst, dass das Außenhandelsdefizit nur einen Bruchteil des Bruttoinlandsproduktes ausmacht und bei Weitem nicht in dem Maße angewachsen ist wie die Wirtschaftsleistung des Landes. Abbildung 1: BIP, Staatsschulden, Außenhandelsbilanz und Staatsausgaben USA in US-Dollar, Datenquellen: Weltbank, US-Bureau of Economic Analysis, US-Finanzministerium Deutlich wird jedoch, dass seit der Finanzkrise 2008 die Staatsschulden der Vereinigten Staaten aus dem Ruder laufen, obwohl die Staatsausgaben – bis auf die Zeit der Corona-Krise – nur moderat angestiegen sind. Die US-Bundesregierung nimmt also weniger ein als sie ausgibt. Setzt man die Bundeshaushaltsbilanz der USA mit dem Vermögenswachstum in Verhältnis, wird deutlich, was der eigentliche Grund für das Defizit des US-Bundeshaushalts ist. Abbildung 2: Vermögensänderung und Bundeshaushaltsbilanz USA in US-Dollar, Datenquellen: Federal Reserve, Congressional Budget Service Die exorbitanten Vermögenszuwächse der reichsten US-Amerikaner gehen spätestens seit 2008 deutlich sichtbar einher mit einem steigenden staatlichen Haushaltsdefizit, das zu immer höheren Neuverschuldungen führt. Wenn die reichsten zehn Prozent der amerikanischen Gesellschaft nur auf einen Teil ihres Vermögensgewinns – nicht ihres Vermögens – verzichten würden, wäre der Staatshaushalt ausgeglichen. Ob unter Demokraten oder Republikanern, ob unter den US-Präsidenten Barack Obama, Donald Trump oder Joe Biden – die Vermögensgewinne der reichsten US-Bürger werden nicht in dem Maße besteuert, wie der Staat Geld benötigt. Lag der Spitzensteuersatz in den Vereinigten Staaten Anfang der 1960er-Jahre noch bei 91 Prozent, ist er auf aktuell 37 Prozent gesunken. Überraschend ist auch, warum in der Zeit der größten Haushaltsdefizite, 2020 und 2021, die Vermögensgewinne ungewöhnlich hoch waren. Offenbar hat insbesondere die reichere Hälfte der US-Bürger von Spekulationen rund um die Pharmaindustrie sowie von staatlichen Maßnahmen zur Abfederung der Corona-Einschränkungen profitiert. Dass es sich bei den Vermögenszuwächsen größtenteils um Spekulationsgewinne handelt, wird auch anhand der kurzzeitigen extremen Verluste während der Finanzkrise und zu Beginn des Krieges in der Ukraine deutlich. Auch wenn entsprechende Daten nicht öffentlich zugänglich sind, ist davon auszugehen, dass die reichen US-Amerikaner ihre Vermögensgewinne zu einem signifikanten Teil in US-Staatsanleihen anlegen – also Gläubiger der Staatsschulden sind. Die Vereinigten Staaten sind demnach als Gesellschaft nicht am Rande der Pleite, wie die hohe Staatsverschuldung dies suggeriert. Stattdessen findet eine Machtverschiebung statt, denn der US-Staatshaushalt gerät in eine immer größere Abhängigkeit von der Bereitschaft der reichen US-Bürger, in Staatsanleihen ihres eigenen Landes zu investieren. Laut dem Magazin Forbes gibt es derzeit (Mai 2025) circa 3.000 Dollarmilliardäre auf der Welt. Knapp ein Drittel davon ist in den Vereinigten Staaten ansässig. Von den 15 reichsten, die über ein Vermögen von mehr als 100 Milliarden Dollar verfügen, kommen zwölf aus den USA. Neben US-Präsident Trump mit einem Vermögen von 5,1 Milliarden Dollar und Elon Musk mit einem Vermögen von 342 Milliarden Dollar finden sich im Umkreis der aktuellen US-Regierung weitere elf mutmaßliche Milliardäre. Diese hohe Konzentration von extrem reichen Menschen an der Spitze der US-Politik liefert eine Erklärung dafür, warum die Regierung die Konsolidierung des Staatshaushalts nicht mit einer höheren Besteuerung der exorbitanten Vermögensgewinne der reichen US-Bürger anstrebt. Denn damit würde ein Teil der Regierungsvertreter Politik gegen die persönlichen Interessen betreiben. Auswirkungen der Zölle und der reduzierten Staatsausgaben auf die US-Wirtschaft Dass Einfuhrzölle ein ungeeignetes Mittel sein können, um das US-Außenhandelsdefizit zu senken, wurde bereits vielerorts kommentiert. Eine übersichtliche Zusammenfassung, wie Zölle funktionieren und wie sich Handelsdefizite auswirken, findet sich auf dem Portal Whathappened. So können Einfuhrzölle das Ziel haben, die heimische Wirtschaft vor der Überproduktion anderer Länder zu schützen, insbesondere dann, wenn Letztere durch staatliche Subventionen gefördert wird. Die offizielle Intention hinter den US-Zöllen sei jedoch, die amerikanische Wirtschaft umzustrukturieren. Produktionen, die zuvor ins Ausland ausgelagert wurden, sollen wieder in den USA angesiedelt werden, indem ausländische Waren künstlich verteuert werden. Ausländische Unternehmen sollen dazu motiviert werden, in den Vereinigten Staaten zu produzieren. Am Ende soll das Land wieder im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig werden und mehr Waren und Dienstleistungen exportieren als importieren, so Whathappened. Allerdings könnten Zölle auch Schäden anrichten, da global agierende Unternehmen über komplexe Wertschöpfungsketten verfügen. Produktionsfirmen in den USA seien auf Importe aus dem Ausland angewiesen. Daher könnten Zölle auch die im eigenen Land hergestellten Produkte verteuern, argumentiert Whathappened. Zölle würden daher wie Steuererhöhungen wirken. Zudem sei das Handelsdefizit der USA entstanden, weil das Land mehr konsumiert, als es selber produzieren kann. Importe hätten daher tendenziell eine positive Auswirkung auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Landes. Letztendlich seien Zölle kein probates Mittel, um ein Handelsdefizit zu senken, da durch Gegenzölle der Export verringert werden kann. Auch die Senkung der Staatsausgaben kann sich negativ auf die Wirtschaftsleistungen auswirken. Da die staatlichen Ausgaben in den USA sechs Prozent des BIP ausmachen, geht eine US-Wirtschaftsexpertin davon aus, dass bei einer Reduzierung der Staatsausgaben um die Hälfte das US-BIP um drei Prozent schrumpfen wird. Andere Wirtschaftsexperten stellen hingegen fest, dass hohe Staatsausgaben wiederum zu einer Verringerung der Wirtschaftsleistungen führen könnten. Dass die Einschätzungen der negativen Auswirkungen der Zölle und der verringerten Staatsausgaben auf die US-Wirtschaft zutreffen könnten, zeigt die vom „Bureau of Economic Analysis“ dokumentierte Entwicklung des Wirtschaftswachstums des Landes. Für das erste Quartal 2025 geht die dem Wirtschaftsministerium unterstellte US-Behörde von einem Rückgang der realen Wirtschaftsleistungen von minus 0,3 Prozent aus – nach Jahren des konstanten Wachstums. Eigentlicher Grund für die Zölle und Auswirkungen auf Europa Da man davon ausgehen muss, dass auch der Trump-Regierung die möglichen negativen Folgen der Einfuhrzölle bewusst sind, hat dieses Vorgehen offenbar ein anderes Ziel, als die US-Wirtschaft und die heimischen Arbeitsplätze zu schützen. Bei den ursprünglichen Zolldrohungen gegen Mexiko, Kanada und China gibt das Weiße Haus sogar offiziell zu, dass man damit diese Länder zur Rechenschaft ziehen will, die illegale Einwanderung in die USA zu stoppen und den Zustrom von Drogen in das Land zu unterbinden. Jens Berger hat bereits Mitte April in einem Beitrag auf den NachDenkSeiten darauf hingewiesen, dass die Zölle dazu dienen könnten, die US-Partnerländer zu Verhandlungen um bilaterale Handelsabkommen zu zwingen. Eine Bestätigung dieser Einschätzung zeigt sich in dem Anfang Mai vereinbarten Handelsabkommen zwischen den USA und Großbritannien. Zur Absenkung der US-Einfuhrzölle auf britische Fahrzeuge und Flugzeugmotoren musste das Vereinigte Königreich seinen Markt für amerikanische Agrarprodukte öffnen und Flugzeuge vom US-Hersteller Boeing kaufen. Zudem musste die britische Regierung zur Befreiung von Zöllen auf Aluminium- und Stahlexporte in die USA strikte Sicherheitsanforderungen der US-Stahl- und Pharmaindustrie akzeptieren. Der Hintergrund ist offenbar, China aus strategischen Lieferketten anderer Länder auszuschließen. Auch die EU hat den USA bereits angeboten, zur Beilegung des Zollstreits zukünftig vermehrt Erdgas und Agrarprodukte aus den Vereinigten Staaten abzunehmen. Ganz offensichtlich geht es US-Präsident Trump primär weniger darum, ausgelagerte Produktionsstätten zurück ins eigene Land zu holen, sondern stattdessen die eigene Überproduktion im Ausland abzusetzen – und damit die Gewinne amerikanischer Unternehmen zu steigern. Ein weiteres Ziel könnte es sein, mit „Basiszöllen“ von zehn Prozent einen Teil der Gewinne ausländischer Unternehmen abzuschöpfen, um damit die US-Staatsausgaben zu finanzieren und weitere Steuererleichterungen für die reichen US-Amerikaner zu ermöglichen. Schlussendlich scheint es, dass angesichts der Vereinbarungen mit Großbritannien auch geopolitische Zwecke mit der Zollpolitik verfolgt werden. Eine derartige Politik stimmt deutlich eher mit dem hohen Anteil von Milliardären in der US-Regierung überein als das Versprechen, die heimischen Arbeitsplätze zu schützen. Ähnliche Entwicklung bei den Staatsschulden und den Vermögensgewinnen der reichsten zehn Prozent in Deutschland Deutschland steht hinsichtlich seiner Staatsschulden und seiner Handelsbilanz zwar derzeit noch deutlich besser da als die Vereinigten Staaten. Abbildung 3: BIP, öffentliche Schulden, Außenhandelsbilanz, Staatsausgaben Deutschland in Euro, Datenquellen: Statistisches Bundesamt Aufgrund der Schuldenbremse konnte Deutschland seine Staatsschulden sogar eine Zeit lang senken. Setzt man jedoch die Vermögensentwicklung mit der Verschuldung der öffentlichen Haushalte ins Verhältnis, ist seit 2020 ein ähnlicher Trend wie in den USA erkennbar. Abbildung 4: Vermögensänderung und Bilanz des öffentlichen Haushalts Deutschland in Euro, Datenquellen: Europäische Zentralbank, Statistisches Bundesamt Während die oberen zehn Prozent der deutschen Bürger enorme Vermögenszuwächse verzeichnen können, verharren die unteren 50 Prozent annähernd auf dem gleichen Niveau. Insbesondere seit 2017 haben sich die Gewinne des oberen Dezils enorm gesteigert und erreichten einen Rekordwert ausgerechnet in der Corona-Krise, als die Bilanz der öffentlichen Haushalte deutlich negativ war. Wie in den USA hat offenbar auch die reichere Hälfte der deutschen Bürger von Spekulationen rund um die Pharmaindustrie sowie von staatlichen Maßnahmen zur Abfederung der Corona-Einschränkungen profitiert. Mit Friedrich Merz als Bundeskanzler ist kaum zu erwarten, dass sich dieser Trend umkehrt. Obwohl er sich selbst zur „gehobenen Mittelschicht“ zählt, gehört er aufgrund seiner jährlichen Einkünfte von bis zu einer Million Euro sowie einem Vermögen von zwölf Millionen Euro eindeutig zu den reichsten 0,1 Prozent der deutschen Bevölkerung. Trotz der noch mit dem alten Bundestag beschlossenen historischen Neuverschuldung von circa einer Billion Euro sind im Koalitionsvertrag keine höheren Steuern auf Kapitalerträge, kein höherer Spitzensteuersatz und keine Vermögenssteuer vorgesehen. Auswirkungen der US-Zölle auf Deutschland Angesichts der sich ständig ändernden Position der US-Regierung zur Erhebung von Einfuhrzöllen fällt es aktuell schwer, zu erfassen, welche Zölle für den Export deutscher Waren in die USA gelten. Zunächst einmal erheben die Vereinigten Staaten schon seit Langem Zölle auf den Import von Waren aus dem Ausland. Diese sind derzeit im „Harmonized Tariff Schedule of the United States“ (HTS oder auch HTSUS) geregelt. Die Höhe der Zölle ist abhängig von der Warengruppe. Im Durchschnitt lag der Zollsatz in den vergangenen 30 Jahren zwischen einem und drei Prozent. Zusätzlich zu den im HTSUS geregelten Zöllen erheben die Vereinigten Staaten seit dem 5. April 2025 einen generellen Einfuhrzoll (Basiszoll) von zehn Prozent – unabhängig vom Herkunftsland. Ausgenommen sind persönliche Gegenstände und Spenden gemäß Titel 50 U.S. Code § 1702(b), Waren, die unter den Abschnitt 232 des Trade Expansion Acts von 1962 fallen oder zukünftig fallen können, Kupfer, Pharmazeutika, Halbleiter und Holzartikel sowie Goldbarren, Energie und andere Mineralien, die in den Vereinigten Staaten nicht verfügbar sind. Abschnitt 232 des Trade Expansion Acts erlaubt es dem US-Präsidenten, Zölle zu erheben, wenn „ein Artikel in solchen Mengen oder unter solchen Umständen in die Vereinigten Staaten eingeführt wird, dass er die nationale Sicherheit bedroht oder beeinträchtigt“. Donald Trump nutzt dieses Gesetz, um außerordentliche Zölle in Höhe von 25 Prozent auf Stahl und Aluminium sowie Automobile und Autoteile zu erheben. Diese Zölle werden nicht zusätzlich zum Basiszoll von zehn Prozent berechnet, sondern stattdessen. US-Präsident Trump hat zudem angekündigt, Produkte aus den EU-Staaten generell mit 20 Prozent zu verzollen statt mit den bereits geltenden zehn Prozent. Allerdings hat er den erhöhten „Basiszoll“ auf EU-Produkte bis zum 9. Juli 2025 ausgesetzt, da die EU Gegenzölle angedroht hat. Die EU hat wiederum ihre Gegenzölle bis 14. Juli 2025 ausgesetzt, um eine Verhandlungslösung mit den USA zu finden. Die US-Einfuhrzölle könnten insbesondere Deutschland treffen. 20 Prozent des deutschen Stahlexports geht in die USA. Damit ist Deutschland für ein Viertel der EU-Stahlexporte in das Land verantwortlich. Im Gegensatz zum Stahl exportieren die deutschen Aluminiumhersteller nur zwei Prozent ihrer Produktion in die Vereinigten Staaten. Die Exporte in das Land haben sich in den letzten zehn Jahren bereits annähernd halbiert. Trotzdem warnt der Verband Aluminium Deutschland vor den Folgen der neu erhobenen Zölle. Denn US-Unternehmen würden nun Aluminiumschrott, der von den Zöllen ausgenommen ist, zu Höchstpreisen in Europa aufkaufen. Dies würde zu einer Verknappung des Rohstoffs in Deutschland und Europa führen. Eine Simulation des Kiel Institut für Wirtschaft geht hingegen davon aus, dass sich die USA mit den Zöllen auf Stahl und Aluminium hauptsächlich selbst schaden. Die EU hätte praktisch keine negativen Folgen zu befürchten. Deutlich stärker könnte Deutschland von den US-Zöllen auf Automobile und Fahrzeugteile betroffen sein. Der Wirtschaftsdienstleister Deloitte geht davon aus, dass die deutschen Autoexporte in die USA bei einem Einfuhrzoll von 25 Prozent um 28 Prozent zurückgehen könnten. Auch das Institut der deutschen Wirtschaft rechnet mit erheblichen Folgen für die deutsche Automobilindustrie und die deutsche Wirtschaft. Die Autoindustrie stehe für fast 22 Prozent der gesamten deutschen Ausfuhren in die USA. Der Verband der deutschen Automobilindustrie weist darauf hin, dass die Vereinigten Staaten der wichtigste Exportmarkt für die deutsche Autoindustrie sind. Fast jeder vierte Porsche sei in den USA verkauft worden, bei BMW und Mercedes soll der Anteil jeweils bei gut 16 Prozent, bei Audi und der Marke VW bei acht bis zwölf Prozent liegen. Ähnliche Probleme – ähnliche politische Entwicklung Die innenpolitischen Änderungen in den USA unter Donald Trump haben zwar keine direkten Auswirkungen auf Deutschland und Europa, sie liefern jedoch Hinweise, wie sich die politische Stimmung hierzulande entwickeln könnte und mit welchen Positionen sich zukünftig Wahlkämpfe gewinnen lassen. Einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Gallup zufolge war die Wirtschaftslage der USA für 52 Prozent der Wähler bei der Präsidentschaftswahl 2024 das wichtigste Thema. Auf den weiteren Plätzen lagen die Demokratie in den USA (49 Prozent), Terrorismus und nationale Sicherheit (45 Prozent), die Auswahl der obersten Bundesrichter (45 Prozent) sowie die Einwanderungspolitik (41 Prozent). Die Beziehungen zu Russland hielten 27 Prozent für extrem wichtig, den Klimawandel 21 Prozent und die Rechte von Transsexuellen 18 Prozent. Für Deutschland ergibt sich ein ähnliches Bild. Eine Umfrage von ARD-Deutschlandtrend im Januar ergab, dass 37 Prozent der Befragten Zuwanderung und Flucht für das wichtigste Problem halten, 34 Prozent die Wirtschaft, 14 Prozent bewaffnete Konflikte, Frieden und Außenpolitik. Das Thema Umweltschutz und Klimawandel lag mit 13 Prozent auf dem vierten, innere Sicherheit, Kriminalität und Terror mit acht Prozent auf dem siebten Platz. Zwar wird die Aufarbeitung der Corona-Krise bei der Wahlforschung häufig ausgeklammert, einer NDR-Umfrage zufolge fordern jedoch fast zwei Drittel der Befragten „eine stärkere politische Aufarbeitung der Corona-Pandemie“. Donald Trump hat im Wahlkampf mit dem Slogan „Make America great again“ die Verbesserung der Wirtschaftslage ins Zentrum gestellt. Zudem hat er öffentlichkeitswirksam versprochen, den Krieg in der Ukraine innerhalb von 24 Stunden zu beenden. Für seine harte Haltung in der Einwanderungspolitik war er bereits in seiner ersten Amtszeit bekannt. Des Weiteren hat Trump mit Robert Kennedy, einem anfänglichen Mitbewerber um das Präsidentenamt, einen bekannten Kritiker der Corona-Maßnahmen und der COVID-19-Impfungen ins Boot geholt und nach der Wahl zum Gesundheitsminister ernannt. Schlussendlich hat er den „Tiefen Staat“ seines Landes kritisiert und mit Tulsi Gabbard eine Kritikerin der Verfehlungen der US-Geheimdienste der letzten 25 Jahre zur Direktorin der Nationalen Geheimdienste ernannt. Trump wurde bereits im Wahlkampf für seine erste Amtszeit vorgeworfen, von Russland unterstützt zu werden – unter anderem auch von den US-Geheimdiensten. Nachdem er 2017 seine erste US-Präsidentschaft angetreten hatte, wurde das Thema weiter von den etablierten Medien in den USA und anderen westlichen Ländern aufgebauscht, obwohl es sich im Nachhinein als Fake News herausgestellt hat. Diese Form einer politisch geleiteten Berichterstattung hat zumindest in den Vereinigten Staaten zu einem großen Vertrauensverlust in die etablierten Medien geführt. In seiner zweiten Amtszeit geht Trump gegen diese Medien vor. So hat die US-Regierung beispielsweise die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) von der Berichterstattung aus dem Weißen Haus und dem Präsidentenflugzeug ausgeschlossen. Schlussendlich hat die politische Opposition versucht, mittels juristischer Verfahren die Wiederwahl Trumps zu verhindern. Zur Politik Donald Trumps sowie zum Umgang der Opposition mit ihm gibt es in den beiden wichtigsten EU-Staaten, Deutschland und Frankreich, auffällige Parallelen. In Frankreich ist es das Rassemblement National (RN), in Deutschland vertritt am ehesten die AfD die politischen Positionen des aktuellen US-Präsidenten. Beide Parteien wollen die Zuwanderung stark einschränken, eine diplomatische Lösung des Konflikts in der Ukraine, eine Fortsetzung der Energielieferungen aus Russland und eine umfassende Aufarbeitung der Corona-Politik. Die AfD fordert eine Reform der öffentlich-rechtlichen Medien sowie eine „Entpolitisierung der Justiz und Sicherheitsbehörden“. Der AfD wie dem RN werden enge Verbindungen zum Kreml sowie Unterstützung aus Russland vorgeworfen. In Deutschland erfolgt diese Kritik an der AfD hauptsächlich von den öffentlich-rechtlichen und den etablierten privaten Medien – größtenteils ohne handfeste Belege. Eine INSA-Umfrage hat ergeben, dass nur 34 Prozent der Befragten die politische Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien für ideologisch ausgewogen halten. Eine Studie der Universität Mainz bestätigt, dass sich die etablierten Medien in Deutschland politisch links der Mitte positionieren. In Frankreich ist das RN aus der letzten Parlamentswahl als stärkste Einzelpartei hervorgegangen. In Deutschland ist die AfD bei der letzten Bundestagswahl zweitstärkste Kraft geworden. In Umfragen liegt die Partei derzeit auf Augenhöhe mit der Union. Die langjährige Parteichefin und Präsidentschaftskandidatin des RN, Marine Le Pen, die zudem in Umfragen derzeit vorne liegt, wurde aufgrund einer Verurteilung wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder von der nächsten Präsidentschaftswahl ausgeschlossen. In Deutschland wird bereits seit Längerem ein Verbot der AfD diskutiert und die Partei vom Verfassungsschutz beobachtet. In anderen europäischen Ländern haben Parteien, die ähnliche politische Positionen wie US-Präsident Donald Trump vertreten, bereits parlamentarische Mehrheiten erlangt – so zum Beispiel in Österreich, in den Niederlanden und in Belgien. Da diese Parteien allesamt eine rechtskonservative Politik verfolgen, ist – wie in den USA – kaum zu erwarten, dass sie das womöglich größte und möglicherweise auch vielen aktuellen weltweiten Krisen zugrunde liegende Problem angehen werden: die beschleunigt wachsende Ungleichverteilung von Vermögen und den immer größer werdenden Einfluss einer kleinen, extrem reichen Gesellschaftsschicht auf die politischen Entscheidungen ihrer Länder. Die Interessen dieser „elitären“ Schicht stehen nicht repräsentativ für den demokratischen Willen eines Volkes. Ihr wachsender Einfluss auf Politik und Medien höhlt die demokratische Grundordnung aus und treibt eine Refeudalisierung an – mit allen negativen Konsequenzen wie Massenarmut und die Kanalisierung innenpolitischer Spannungen in außenpolitische Konflikte. Titelbild: Below the Sky/shutterstock.com
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Gönnen Sie sich jeden Tag einen fernsehfreien Tag …
Gönnen Sie sich jeden Tag einen fernsehfreien Tag …
Von Montag bis Sonntag. Es lohnt sich. Zum Verständnis dieser Empfehlung muss ich noch einmal ein bisschen aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erzählen – von einem Vorschlag und einer davon ausgelösten Debatte, die 47 Jahre zurückliegen. Lange her, aber immer noch aktuell. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Im Spätherbst 1977 – damals war ich Leiter der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes – zogen wir uns wie jedes Jahr zu einer Klausur zurück, um vom Tagesgeschäft befreit darüber nachzudenken, was der Bundeskanzler im kommenden Jahr programmatisch propagieren sollte, was sachlich geboten wäre und womit er sich profilieren könnte. Wir hatten vorher schon einige Male unweit von Bonn in einem Hotel in der Eifel getagt. Das war aber steril, wenig anregend und vergleichsweise teuer. Von privaten Ferien kannte ich einen Bauernhof im Schwarzwald. Dort gab es in einem Nebengebäude Räume zum Übernachten und einen Raum zum Tagen. Die Fragestellung für unsere Beratungen war jedes Mal die gleiche: Was wäre ein interessanter und wichtiger programmatischer Beitrag des Bundeskanzlers für die öffentliche Debatte? Werner Gessler, damals Mitarbeiter der Planungsabteilung, berichtete ziemlich am Anfang unserer Beratungen davon, was er über einen politischen Vorstoß und die folgende Debatte in Ungarn gelesen hatte. Dort erwäge man, einen fernsehfreien Tag einzuführen. Das hielten wir für eine interessante Idee, wir debattierten darüber, auch über Details und haben dann diesen Vorschlag in unser Planungspapier für den Bundeskanzler aufgenommen. Helmut Schmidt griff die Idee auf, er beriet darüber im Mai 1978 in einem kleinen Kreis, zu dem auch die Allensbacher Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann gehörte. Daraus folgte dann der Auftrag, einen Artikel für die Wochenzeitung Die Zeit zu entwerfen. Helmut Schmidt überarbeitete diesen Entwurf. Sein Text erschien dann am 26. Mai 1978 mit der – heute betulich wirkenden – Überschrift: „Plädoyer für einen fernsehfreien Tag. Ein Anstoß für mehr Miteinander in der Gesellschaft“. Helmut Schmidts ZEIT-Artikel siehe hier. Der Artikel bestimmte über einige Zeit die öffentliche Debatte. Und er prägte und ergänzte das Image dieses Bundeskanzlers – jedenfalls insoweit, dass dem Imageelement des „Machers“ Helmut Schmidt noch Elemente des Nachdenkens über wichtige gesellschaftliche und familiäre Gewohnheiten, Tugenden und Untugenden hinzugefügt wurden. Ich bin sicher nicht der Prototyp des deutschen Fernsehkonsumenten. Aber am 23. Mai 2025 – also vor drei Tagen – habe ich ausnahmsweise lange ferngesehen: Von 19:00 Uhr bis 23:00 Uhr, wechselnd zwischen ARD und ZDF. Und ich bin bei dieser Gelegenheit – noch einmal – zu einem begeisterten Anhänger des Helmut Schmidt’schen Vorschlags für einen fernsehfreien Tag geworden. Denn was an diesem Abend des Jahres 2025 an Mist und an langweiligem Quatsch, von Heute Show bis Böhmermann, in unsere Wohnstuben gesendet wurde, das hält der Mensch nicht aus, es sei denn, er will sich total belatschern und verbiegen lassen. Viele nehmen das wohl hin. Das ist deprimierend. Ich ermuntere jedenfalls die Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten, sich der Gruppe anzuschließen, die auf Fernsehen verzichtet oder dieses auf ein Mindestmaß beschränkt. Gönnen Sie sich jeden Tag einen fernsehfreien Tag … von Montag bis Sonntag.
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Unterstützt Kanzler Merz das von EU-Chefin von der Leyen geforderte langfristige Reparaturverbot für Nord Stream?
Unterstützt Kanzler Merz das von EU-Chefin von der Leyen geforderte langfristige Reparaturverbot für Nord Stream?
EU-Kommissionschefin und CDU-Parteikollegin des Kanzlers, Ursula von der Leyen, hatte am 16. Mai erklärt, dass sie präventiv mittels eines neuen EU-Sanktionspakets die mögliche Reparatur und Wiederinbetriebnahme von Nord Stream langfristig verhindern will. Mit der Sanktionierung der Reparatur von Nord Stream würde die EU de facto die mutmaßlich staatsterroristische Sprengung von ziviler Energieinfrastruktur gutheißen und belohnen. Vor diesem Hintergrund wollten die NachDenkSeiten wissen, ob Merz und die neue Wirtschaftsministerin Reiche diesen Schritt mit von der Leyen abgesprochen hatten und ob sie dieses Reparaturverbot, welches massive Auswirkungen auf die Versorgungsoptionen der Bundesrepublik Deutschland hat, ebenfalls unterstützen werden, wenn es dem US-Investor Stephen Lynch gelingt, Nord Stream zu kaufen. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Hintergrund Beim Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs im Format der sogenannten „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ im albanischen Tirana am 16. Mai hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärt, dass sie mit allem Mitteln die mögliche Reparatur und Wiederinbetriebnahme der Nord-Stream-Pipelines verhindern will. In diesem Zusammenhang verkündete sie unmissverständlich: „Wir wollen verhindern, dass die zerstörten Pipelines jemals wieder ein strategisches Werkzeug Russlands werden.“ Der BSW-Abgeordnete im EU-Parlament Fabio de Masi und andere politische Beobachter wiesen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ein langfristiges Verbot einer möglichen Reparatur von Nord Stream in Form von Sanktionierung sowohl die „faktische Belohnung der staatsterroristischen Sprengung von Energieinfrastruktur“ darstellen würde als auch, dass die EU damit beschließen würde, „dass Deutschland nie wieder günstiges Pipeline-Gas beziehen darf (selbst nach einem Frieden in der Ukraine)“ und stattdessen langfristig gezwungen wäre, für seine „Energiesicherheit“ teures US-Frackinggas zu erwerben (russisches Pipelinegas war Stand Februar 2022 um den Faktor 7 günstiger als US-amerikanische Frackinggas). Wir leben in der Matrix: Sollte die Reparatur von Nord Stream 2 sanktioniert werden, wäre das die faktische Belohnung der staatsterroristischen Sprengung von Energieinfrastruktur. Die EU würde beschließen, dass Deutschland nie wieder günstiges Pipeline-Gas beziehen darf (selbst… pic.twitter.com/DNCaOJBHeZ — Fabio De Masi (@FabioDeMasi) May 19, 2025 Was sagen Kanzler Merz und Wirtschaftsministerin Reiche zu diesem vdL-Vorstoß? Regierungssprecher Kornelius erklärte auf die entsprechende Frage der NachDenkSeiten: „Der Kanzler hat sich in dieser Frage selbst positioniert und hat klargemacht, dass eine Zertifizierung von Nord Stream momentan nicht denkbar ist.“ Hier fällt zumindest im Gegensatz zu vdLs langfristiger Ansage, dass Nord Stream niemals wieder in Betrieb gehen sollte, die Betonung des Merz-Sprechers von „momentan nicht …“ auf. Doch nur zwei Tage nach dieser Aussage in der Regierungspressekonferenz berichtete die britische Tageszeitung Financial Times unter Berufung auf „mit der Angelegenheit vertraute Regierungsbeamte“, dass Merz „aktiv“ ein geplantes EU-weites Verbot der Nord-Stream-Pipelines unterstütze, um einer möglichen Wiederinbetriebnahme durch Russland oder mit US-Unterstützung zuvorzukommen, jegliche innenpolitische Debatten über die Vorzüge einer möglichen Reaktivierung zu unterbinden sowie mittels des EU-weiten Verbots das Thema zu „vergemeinschaften“ und so bilateralen Druck auf Berlin durch Washington und Moskau zu umgehen: „Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz unterstützt „aktiv“ ein geplantes EU-Verbot der Nord-Stream-Pipelines, die Russland mit Deutschland verbinden, um jegliche Bemühungen der USA und Russlands zur Wiederaufnahme der Gasverbindungen zu unterbinden.“ US-Investor mit Interesse an Nord-Stream-Erwerb war kürzlich zu Besuch in Berlin Im Gegensatz zur Darstellung von Regierungssprecher Kornelius, der die Nachfrage der NachDenkSeiten zu der Möglichkeit des Erwerbs von Nord Stream durch den US-Investor als spekulativ darstellte („Sie haben jetzt Ihre Frage an verschiedene Konditionen geknüpft, die ich so nicht teilen kann“), berichtete die ZEIT am 24. Mai, dass der entsprechende US-Investor Anfang Mai auf Einladung des Bundeswirtschaftsministeriums in Berlin weilte, um genau über diese Pläne zu sprechen: „Stephen Lynch war am 6. Mai aus London eingeflogen. Das Ministerium hatte ihn zu einer Besprechung eingeladen, wie aus Teilnehmerkreisen verlautet. Die Berliner Beamten wollten mehr erfahren über den kühnen Plan des US-Investors: den Kauf und die Reparatur der Nordstream-Pipeline.“ Weiter heißt es in dem Artikel: „Dass Lynch es ernst meint mit seinen Plänen, zeigt, dass er dafür eigens nach Berlin gekommen ist, um mit hochrangigen Beamten zu sprechen.“ Vor einem solchen Kauf von Nord Stream bräuchte er allerdings noch die Genehmigung der US-Sanktionsbehörde (Ofac). Einen entsprechenden Antrag hat er allerdings schon vor Monaten gestellt. In dem Schreiben an die Ofac heißt es als Begründung für den Erwerb der Pipeline, dass eine solche Übernahme „den amerikanischen Einfluss auf die europäische Energie-Infrastruktur sichern (würde)“. Deutschland als Verlierer … Bereits jetzt stammen 91 Prozent (Stand März 2025) aller deutschen LNG-Importe aus den USA, Tendenz weiter steigend. Kämen dazu noch die 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, die über Strang B von einer in US-Hand befindlichen Nord-Stream-2-Pipeline transportiert werden könnten, wäre Deutschland sowohl bei LNG- wie bei Pipeline-Gas zu großen Teilen von US-Lieferanten abhängig. Zudem könnten die USA als Mittelsmann von Nord Stream zwischen Russland und Deutschland ohne viel Zutun ordentlich Gewinne abgreifen – ein US-Beamter erklärte dazu gegenüber der Financial Times bereits im März 2025 offen und frei: „Die US-Investoren würden damit ‚Geld für nichts‘ kassieren.“ Ebenso würde so ein Vorgehen Washington ermöglichen, damit seine Beziehungen zu Russland weiter auszubauen und Deutschland in Folge in eine noch weitere Energie- und auch politische Abhängigkeit zu treiben. Sowohl die Scholz- wie jetzt auch die Merz-Regierung haben Deutschland in Bezug auf Nord Stream in eine Situation manövriert, aus der Deutschland nur noch als Verlierer hervorgehen kann … Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 21. Mai 2025 Frage Warweg Auch zu dem Kontext der Sanktionierung von Nord Stream: Die EU-Kommissionschefin und Parteikollegen des Kanzlers hat am 16. Mai erklärt, dass sie präventiv mittels des schon genannten Sanktionspakets die mögliche Reparatur und Wiederinbetriebnahme von Nord Stream langfristig verhindern wolle. Vor dem Hintergrund würde mich interessieren: Hat denn die EU-Chefin diese Entscheidung, die ja direkte Auswirkungen auf die langfristigen Versorgungsoptionen der Bundesrepublik hat, zuvor mit dem Kanzler und auch mit der BMWE-Ministerin abgesprochen? Regierungssprecher Kornelius Der Kanzler hat sich in dieser Frage selbst positioniert und hat klargemacht, dass eine Zertifizierung von Nord Stream momentan nicht denkbar ist. Zusatzfrage Warweg Die Frage ging ja auch an das BMWE. Greve (BMWE) Dem habe ich nichts hinzuzufügen oder nur den einen Satz: Wir sind unabhängig von russischem Gas, und die Gasversorgungssituation in Deutschland ist sicher. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Zusatzfrage Warweg Die Sanktionierung der Reparatur von Nord Stream 2 wird ja von vielen Beobachtern als eine Art Belohnung einer mutmaßlich staatsterroristischen Sprengung von ziviler Infrastruktur angesehen. Da würde mich interessieren: Würde der Kanzler dieser Sanktionierung auch zustimmen, wenn, was laut Status quo gar nicht so unwahrscheinlich ist, diese Pipeline von US-Investoren gekauft und repariert wird? Kornelius Sie haben jetzt Ihre Frage an verschiedene Konditionen geknüpft, die ich so nicht teilen kann. Deswegen kann ich sie eigentlich nicht beantworten. Aber die Bundesregierung hat sich ja nicht zur Reparatur der Pipeline geäußert, sondern zur Inbetriebnahme. Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 21.05.2025 Mehr zum Thema: Vortrag von Florian Warweg: „Nord-Stream-Terroranschlag – Wer ist verantwortlich?“ Neue Erkenntnisse zu Nordstream und Rolle der USA? – „Ich weise das mit Abscheu und Empörung zurück“ Ostseewasser sind tief – Neue Rechercheergebnisse zu den Nord-Stream-Anschlägen US-Investor will Nord Stream kaufen und 50 Millionen Euro für Hinweise zu den Tätern des Anschlags Anstehender Verkauf von Nord Stream 2 und die Vogel-Strauß-Taktik der Bundesregierung
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Botschafter a. D. Varga: Bringt Wadephul den Bundespräsidenten auf die Anklagebank?
Botschafter a. D. Varga: Bringt Wadephul den Bundespräsidenten auf die Anklagebank?
Im Schatten der Feierlichkeiten in Moskau am 9. Mai und am selben Tag in Lwiw in der Ukraine unterzeichneten 20 Außenminister der EU sowie aus der Ukraine eine Erklärung zur Einrichtung eines Sondertribunals gegen die Verantwortlichen der russischen Aggression in der Ukraine. Diese Initiative macht ein rasches Ende des Krieges noch unwahrscheinlicher. Sie t in Weiterlesen
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Der Souverän und seine Volksvertreter – Plädoyer für die Demokratisierung der Demokratie
Der Souverän und seine Volksvertreter – Plädoyer für die Demokratisierung der Demokratie
‚Hätte ich das gewusst, hätte ich die Partei X nicht gewählt…‘. So dürften viele Menschen kurz nach den Bundestagswahlen gedacht haben, als der damals designierte Bundeskanzler Friedrich Merz die Schuldenbremse entgegen seiner Wahlkampfaussagen für die Aufrüstungsfinanzierung des deutschen Militärs sturmreif schoss. Wie kann es in einer Demokratie sein, dass politische Entscheidungen bisweilen diametral den gesellschaftlichen Vorstellungen und Interessen zuwiderlaufen? Heißt Demokratie nicht Volksherrschaft? Wie t das Bild von Demokratie mit den mitunter selbstherrlichen Entscheidungen politischer Entscheider zusammen? Der entscheidende Begriff hierfür lautet: Repräsentation. Und, was kann gegen politische Selbstherrlichkeit der Gewählten unternommen werden? Auch hier lautet das entscheidende Instrument: Volksentscheid. Von Alexander Neu. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. „Repräsentation“ bedeutet, dass eine Person oder eine Personengruppe, gewählt in staatliche Organe (Deutscher Bundestag, Bundesregierung, Bundeskanzler), die Interessen einer größeren Gruppe (des Volks als eigentlicher Souverän) in deren Auftrag vertritt bzw. repräsentiert (siehe hier Art. 20 Abs. (2) Grundgesetz). Diese Person oder Personengruppe erhält über Wahlen den Auftrag. Damit unterscheidet sich die repräsentative Demokratie von der direkten Demokratie. In der direkten Demokratie entscheidet die Gesamtheit der Personen über ihr gemeinsames Schicksal unmittelbar. Es besteht eine direkte, auch personelle, Identität zwischen Regierenden und Regierten – zwischen Rechtsetzenden und Rechtsunterworfenen. Angesichts einer großen Personengruppe, also eines Volkes, ist diese demokratische Variante jedoch nicht alltagspraktikabel. Hinzu kommen die Menge und die Komplexität politischer Fragestellungen, die es einer ganzen Gesellschaft gar nicht erlaubt, sich damit täglich auseinanderzusetzen. Das Konzept der Repräsentation ist eine praxistaugliche Kompromisslösung, um dem Volkswillen Ausdruck zu verleihen und diesen auch politisch umzusetzen, so die dahinterstehende Idee. Es wird also eine fiktive Identität von Repräsentanten und Repräsentierten unterstellt. Was aber, wenn die gewählten Repräsentanten ganz andere Vorstellungen von dem haben, was gut für das Volk, für das Gemeinwesen ist, also die Repräsentierten – wenn also eine Entfremdung zwischen beiden Gruppierungen zu beobachten ist? Dann spricht man von einer Krise der Demokratie oder der Repräsentation, einer Repräsentationslücke etc. Eine tatsächliche fiktive Identität wäre beispielsweise durch ein imperatives Mandat (gebundenes Mandat) gesichert. Der gewählte Abgeordnete müsste so im Parlament entscheiden, wie seine Wähler es wollen. Im Grundgesetz (Artikel 38 Abs. (1) Satz 2) indessen heißt es: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Sodann bleibt festzustellen, dass Friedrich Merz sich mit seinem politischen Coup innerhalb des Verfassungsrahmens bewegte; er tat es, weil er es grundgesetzlich durfte. Es war legal, wenn auch politisch nicht so sehr legitim – wie so viele politische Entscheidungen, die im Gegensatz zu vorherigen Wahlversprechen getroffen werden. Der Wähler gibt dem gewählten Abgeordneten (Erststimme) bzw. der Partei (Zweitstimme) einen politischen Blankocheck in der Hoffnung, dass dieser auch in seinem Sinne eingelöst wird. Wird er nicht im Wählersinne eingelöst, so hat der Wähler mal wieder Pech gehabt, so die politische und Verfassungsrealität. Der Wähler selbst also kann die politische Entscheidung über das Instrument des imperativen Mandats nicht steuern, da die Abgeordneten, die Regierungsvertreter nur ihrem „Gewissen unterworfen“ und somit dem Souverän gegenüber nicht weisungs- und auftragsgebunden sind. Allenfalls bleibt die Chance, nach Ablauf der Wahlperiode seine Wahlpräferenz einer anderen Partei, einem anderen Direktkandidaten zuzuteilen. Für die übrigen vier Jahre ist der Souverän erstmal raus – so zumindest die Verfassungswirklichkeit. Besonders prägnant brachte dies die damalige Außenministerin Annalena Baerbock zum Ausdruck, als sie sich zu ihrer Bereitschaft der Unterstützung der Ukraine – so lange, wie es nötig sei – äußerte und mit dem Halbsatz ergänzte: „egal, was meine deutschen Wähler denken“. Legal, aber demokratietheoretisch sehr fragwürdig, wenn nicht gar unverschämt – wird der Wähler, der zugleich Steuerzahler ist und alle politischen Entscheidungen mit seinen Steuern finanzieren muss, doch zur Melkkuh degradiert. Die Steuergelder, die der Souverän zahlt, werden der Regierung zum guten Regieren mithin zum Wohle des Gemeinwohls treuhänderisch anvertraut. Nutzt die Regierung das anvertraute Geld ohne Rücksichtnahme auf den Willen des Steuerzahlers/Souveräns – beispielsweise ausgedrückt durch Umfragen –, so wird der Boden zur Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden bereitet. Der sogenannte „empirische Volkswille“ verliert zunehmend an Bedeutung, während der „hypothetische Volkswille“ die Oberhand gewinnt. Empirischer Volkswille versus hypothetischer Volkswille Was unterscheidet beide Formen des Volkswillens? Der „empirische Volkswille“ ist der Volkswille, der durch Umfragen und andere Formen öffentlicher Meinungsfeststellungen zur Grundlage politischer Entscheidungen in einer repräsentativen Demokratie gemacht wird. Tatsächlich leidet das Konzept des „empirischen Volkswillens“ daran, dass es kaum einen messbaren einheitlichen Volkswillen gibt, zumal in einer stark ausdifferenzierten postmaterialistischen Gesellschaft. Bis auf wenige Themen, wie vielleicht der Friedensfrage, geht es um Mehrheits- und Minderheitenmeinungen. Politische Parteien und deren Vertreter, die sich stärker als andere dem „empirischen Volkswillen“ sowie auch sprachlich dem Volke annähern, werden häufig abwertend als Populisten bezeichnet. Der Begriff „Populismus“ selbst wird gerne von den Vertretern des „hypothetischen Volkswillens“ verwendet, um die „Populisten“ zu diffamieren. Dabei merken sie gar nicht, dass sie sich genau dann selbst elitär und abgehoben verhalten. Jedenfalls ist die fiktive Identität zwischen Regierten und Regierenden im Konzept des „empirischen Volkswillens“ im Vergleich zum „hypothetischen Volkswillen“ höher. Denn der „hypothetische Volkswille“ bedeutet, dass die gewählten Abgeordneten und die indirekt gewählte Regierung schon wissen, was das Beste fürs Volk ist, selbst dann, wenn die öffentliche Meinung eine ganz andere Meinung ist. Die oben zitierte Aussage von Annalena Baerbock ist daher ein Glanzstück eines politisch-demokratischen Verständnisses im Sinne des „hypothetischen Volkswillens“. Die ohnehin fiktive Identität zwischen Regierten und Regierenden tendiert gegen null. Verfassungsrealität versus Verfassungstheorie Das Grundgesetz selbst ist durchaus offener, was die Frage zur politischen Partizipation des wählenden Staatsbürgers, des Souveräns angeht. So erhebt Artikel 20 Abs. (2) zunächst den Staatsbürger zum Souverän: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Im nachfolgenden Satz heißt es: „Sie [Die Staatsgewalt, A. Neu] wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Hier sind die beiden Begriffe „Wahlen“ und „Abstimmungen“ interessant. Mit „Wahlen“ sind unzweifelhaft die Bundestagswahlen gemeint. Was aber ist mit „Abstimmung“ gemeint? Ist damit eine direkte politische Entscheidung des Souveräns, also Volksentscheide gemeint? Ja, genau das ist damit gemeint. Ergänzt wird diese Annahme durch einen weiteren Verfassungsartikel, nämlich Artikel 21 GG: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Mitwirkung bedeutet eben kein Wirkungsmonopol der Parteien. Somit wird auch hier die Möglichkeit von Volksentscheidungen implizit eröffnet. Und in Artikel 29 („Neugliederung des Bundesgebietes“) wird der Begriff des „Volksentscheids“ explizit sowie Art. 146 („Geltungsdauer des Grundgesetzes“) implizit verwendet. Kurzum: Das Grundgesetz selbst eröffnet die Möglichkeit von Volksentscheiden – zumindest in den beiden Fällen (Art. 29 und 146), aber auch durch die offene Formulierung der Artikel 20 („Abstimmung“) und 21 (Mitwirkung). Dass die Verfassungsrealität sich auf eine Parteiendemokratie/Parteienstaat hin verengt, bedeutet hingegen nicht, dass die Verfassungstheorie nicht auch andere Optionen beinhaltet. Volksentscheide als Korrektive? Die repräsentative Demokratie ist in einem modernen Staatsgebilde angesichts der Komplexität zu klärender Fragen und Regularien (Gesetze) und deren Menge sicherlich die geeignetere Form der Demokratie. Die direkte Demokratie mag in den antiken Stadtstaaten Athen und Sparta funktioniert haben, deren Regelungskomplexität und -menge überschaubar gewesen sein mag. In modernen Staaten hingegen ist es nicht praktikabel. Aber die rein repräsentative Form der Demokratie stößt eben selbst auch an ihre Grenzen, nämlich dann, wenn Zweifel an der Demokratie laut werden, weil das Konzept des hypothetischen Volkswillens die fiktive Identität zwischen Regierenden und Regierten ad absurdum führt. Wenn politische Entscheidungen gewählter Volksvertreter in Qualität und Quantität an den Interessen eines Staatsvolkes (scheinbar) vorbeigehen oder sich gar in einen Widerspruch begeben; wenn der Staat von den Parteien zu ihrem Staat, zum reinen Parteienstaat degradiert wird und sich Parteien am Staat bedienen; wenn beispielsweise sogenannte NGOs mit Steuergeldern des Souveräns finanziert/alimentiert werden, um als sogenannte „Zivilgesellschaft“ einen engen Diskursrahmen unter Nutzung einer scheinbar moralisch fundierten „Political Correctness“ zu schaffen; wenn Bürger/Steuer- und GEZ-Zahler mit ihrem eigenen Geld durch betreutes Denken zu Konformismus statt zu kritischen Staatsbürgern erzogen werden sollen; wenn die politische Klasse also nicht nur zu wissen glaubt, was gut und richtig fürs Volk ist („hypothetischer Volkswille“), und sich daher über den „empirischen Volkswillen“ hinwegsetzt, sondern vielmehr noch den „empirischen Volkswillen“ selbst von oben zu formieren versucht; wenn Kritik an der Regierung bereits als Kritik am Staat diffamiert wird, wenn also die politische Klasse sich selbst als Staat denn als Volksvertreter versteht, dann ist das Erfordernis von Korrekturen naheliegend. Volksentscheide sind eine interessante Form, den in eine Vertrauenskrise fahrenden Willensbildungsprozess der reinen repräsentativen Demokratie zu beleben. Volksentscheide sollen und können nicht die repräsentative Demokratie aus den oben genannten Gründen ersetzen. Sie sollen aber potenzielle Fehlentscheidungen der repräsentativen Demokratie korrigieren können. Sie sollen auch die Abgeordneten des Parlaments unter Druck setzen, Entscheidungen zu treffen, die den Interessen der Bevölkerung dienlich sind und nicht den Interessen möglicherweise ideologiegetriebener politischer Eliten. Sie sollen den formal politisch mündigen Bürger tatsächlich befähigen, politisch mündig zu sein, statt ihn auf den Status des Wählers faktisch zu reduzieren. Auch die Außen- und Sicherheitspolitik muss demokratisiert werden: Wichtige Fragen wie Rüstungsexporte, Bündnisoptionen oder die Entscheidung von Krieg und Frieden sollten nicht einer politischen Elite allein überlassen werden. Denn die Rechnungen für falsche Entscheidungen der politischen Elite zahlen diese am wenigsten und die Bürger im Zweifel am meisten. Wenn der neue Bundeskanzler die Bundeswehr zur „stärksten konventionellen Armee Europas“ machen will, wie verkündet, so darf eine solche sicherheits- und finanzpolitische Entscheidung nicht allein den gewählten Abgeordneten und schon gar nicht einer mittelbar gewählten Bundesregierung überlassen werden. Fragen des sicherheitspolitischen Mehrwertes oder gar die Gefahren des Rüstungswettlaufs, der Eskalation, der enormen finanziellen Kosten sowie die Einsparungen an anderen Stellen gehören gesellschaftlich debattiert und durch einen Volksentscheid geklärt und nicht par ordre de mufti entschieden. Und die Argumente gegen direktdemokratische Partizipation, ja ich kenne sie, und sie überzeugen mich nicht. Sie sind teilweise sehr konstruiert, ja bisweilen einfach wahrheitswidrig. Beispielsweise der Verweis auf die Todesstrafe, die dann wahrscheinlich wieder eingeführt würde, obschon sie den europäischen Werten widerspreche. Oder der Verweis auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der damit einhergehenden Einführung ihrer Diktatur. Nicht minder der Verweis auf die mangelnde Kompetenz der Gesellschaft, schwierige Themen adäquat zu beurteilen. Meine Replik auf derartige Nebelkerzen: Die Todesstrafe ist explizit grundgesetzlich verboten (Artikel 102 Grundgesetz). Und Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes verweisen im weiteren Sinne auf ein Verbot der Todesstrafe angesichts der Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie das Recht auf Leben. Artikel 1 unterliegt sogar der Ewigkeitsklausel, darf also nicht angetastet werden. Somit wäre die Wiedereinführung der Todesstrafe nach dem Grundgesetz gar nicht möglich. Und selbstverständlich könnten Ergebnisse von Volksentscheiden ebenfalls dem Bundesverfassungsgericht auf Prüfung ihrer Verfassungskonformität hin vorgelegt werden. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Tatsächlich hat die NSDAP die Macht in Deutschland nicht per Volksentscheid, sondern durch demokratische Wahlen – also repräsentativ – errungen. Und der Schritt zur endgültigen Diktatur wurde auch im Deutschen Reichstag mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz entschieden. Der Reichstag hat sich mit entsprechender Mehrheit selbst entmündigt. Die SPD-Fraktion stimmte als einzige Fraktion dagegen, die Abgeordneten der KPD wurden zuvor bereits verhaftet oder befanden sich auf der Flucht vor ihrer Verfolgung. Beide Schritte, die Machtergreifung der NSDAP wie auch der nachfolgende Schritt zur Diktatur, verliefen im Rahmen der repräsentativen Demokratie und eben nicht direktdemokratisch. Und dennoch spricht niemand davon, angesichts der NS-Machtergreifung via Reichstagswahlen und Abstimmung im Reichstag die repräsentativ-parlamentarische Demokratie abzuschaffen. Tatsächlich sind viele politische Fragestellungen hoch komplex und zeitraubend in der Beantwortung. Und nicht jede politische Problematik bzw. Frage sollte direktdemokratisch geklärt werden, weil dies unrealistisch wäre. Fragen von wirklich nationaler Bedeutung, von hoher Relevanz, von Systemrelevanz (beispielsweise, wer alles in die Rentenkasse einzahlen sollte) für die Gesellschaft sollten jedoch vom Souverän direkt entschieden werden können. Dem können und sollten mitunter monatelange moderierte Diskussionen vorausgehen. Und es sei mir etwas Polemik erlaubt: In meiner Zeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag, im Verteidigungsausschuss als Obmann sitzend, habe ich genügend mäßig begabte Kollegen erlebt, die definitiv nicht in der Lage waren, die Komplexität des jeweiligen Themas wirklich zu erfassen. Sie folgten blind der Vorgabe ihrer Sprecher und der Fraktionsvorsitzenden – reduzierten sich also auf die Mehrheitsbeschaffung. Aber warum wird so vehement gegen das partizipative Instrument des Volksentscheids nahezu parteiübergreifend Stimmung gemacht? Die Antwort ist so einfach wie banal: Die politische Klasse – formiert in diverse Parteien – hat keinerlei Interesse, ihre Macht mit dem eigentlichen Souverän zu teilen, weder hinsichtlich der politischen Themen und Inhalte noch organisatorisch. Titelbild: Shutterstock / Rafael de Gracia
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Hauke Ritz: Deutschland am Scheideweg
Hauke Ritz: Deutschland am Scheideweg
Den USA in ihrem „neuen Realismus“ folgen und sich gleichzeitig von deren hegemonialen Anspruch befreien: Dies betrifft auch jenes postmoderne Kulturkonzept, das auf die Bedingungen des Kalten Krieges zurückgeht. Gerade unsere humanistischen geistigen Traditionen, so Hauke Ritz in seinem Buch „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“, könnten Brücken sein für eine künftige Friedensordnung auf dem eurasischen Kontinent. Von Irmtraud Gutschke. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“: Einen zugkräftigen Titel hat der Westend Verlag diesem Band des Philosophen und Friedensforschers Hauke Ritz gegeben. Zumal man sofort widersprechen möchte: Auch wenn Kanzler Merz sich wie ein Gernegroß aufführt, was hängt denn momentan noch von Deutschland ab? Der Weltfrieden insofern, weil das Kriegsgeschrei, die Lieferung von Taurus-Raketen und anderen Waffen, die direkt auf Russland zielen, nicht nur unser Land in Gefahr bringen würden. Dass wir uns derzeit zumindest in einem Kalten Krieg befinden, kann niemand verneinen, der das unwürdige politische Theater um den 80. Jahrestag der Befreiung miterlebt hat, den skandalösen Versuch, Vertreter Russlands von den Feierlichkeiten auszuschließen. Die Frage ist wirklich, wie es da je wieder zu gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland kommen soll. Hauke Ritz, 1975 in Kiel geboren, wurde 2013 an der FU Berlin in Philosophie promoviert. Seine Dissertation hatte das Thema „Der Kampf um die Deutung der Neuzeit. Die geschichtsphilosophische Diskussion in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zum Mauerfall“. Zu Forschungszwecken hat er seit 2014 regelmäßige Russland-Reisen unternommen und unterrichtete an der Universität Gießen, der Lomonossow-Universität Moskau, der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität sowie der Universität in Belgorod. Zuletzt sei er für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) in Moskau tätig gewesen. So die Information des Westend Verlages, wo Hauke Ritz zusammen mit Ulrike Guérot 2022 das viel beachtete Buch „Endspiel Europa“ veröffentlicht hat und wo von Guérot in diesen Tagen ein neues Buch erschienen ist: „Zeitenwenden. Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart“, das ebenfalls bald hier besprochen werden soll. Bei Ritz‘ neuem Band handelt es sich um eine Sammlung von zehn Aufsätzen, die nicht erst heute geschrieben wurden, sich aber aufschlussreich mit heutigen Problemen beschäftigen. Zum Teil wurden sie überarbeitet, auf jeden Fall aber im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen ausgewählt. Der weltpolitische Wandel, den die USA unter Donald Trump eingeleitet haben, ist in seinen Resultaten noch nicht wirklich absehbar. Aber deutlich sichtbar ist eine Verschiebung von Kräfteverhältnissen in der Welt, welche gerade Westeuropa vor ungeahnte Herausforderungen stellt. Ein altes Kriegsziel deutscher Machthaber In einer Situation allgemeiner Unsicherheit setzt Hauke Ritz auf nüchterne Einschätzungen. „Die Abtrennung der Ukraine von Russland war ein altes Kriegsziel des Deutschen Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg, das im erzwungenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk gewaltsam durchgesetzt wurde. Das ‚Dritte Reich‘ aktivierte dieses Kriegsziel erneut und weitete es noch aus, indem es neben der Aneignung der Ukraine auch noch die Vernichtung eines beträchtlichen Teils aller Russen anstrebte. Denn Hitlers Feldzug gegen die Sowjetunion war offen als rassenideologischer Vernichtungskrieg konzipiert.“[1] Und heute kommt seitens deutscher Politik schon wieder die Forderung, Russland einzudämmen. „Wenn Russland gewinnt“ nannte Carlo Masala sein Horrorszenario. [2] Und der einstige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verstieg sich gar zu der Aussage, „dass ein russischer Sieg schlimmer wäre als eine fortgesetzte Eskalation, die zu einem realen Weltkrieg mit Milliarden von Toten führen kann“. [3] Woher kommt diese Panik? Aus der Gehirnwäsche im Kalten Krieg? Oder mehr noch aus der Angst vor dem Verlust der eigenen Position, weil man nicht in der Lage ist, den weltpolitischen Veränderungen Rechnung zu tragen? Neue Wirklichkeit einer multipolaren Weltordnung Was andere Autoren bereits betonten: In der Ukraine wird ein Weltordnungskonflikt ausgefochten, in dem es dem Westen um die Eindämmung Russlands geht. Die von den USA dominierte unipolare Weltordnung wurde auf Dauer zu kostspielig. Die Außen- und Innenpolitik unter Trump sind eine Reaktion darauf, wobei es wohl noch manche Rückzugsgefechte geben wird, denn im Schatten des Ukrainekonflikts sind unumkehrbare Veränderungen in der Welt vor sich gegangen, neue multipolare Machtzentren entstanden. Wie lange sich der Stellvertreterkrieg in der Ukraine auch noch hinziehen mag – man hofft ja, er ginge schnell zu Ende –, die Bündnisse zwischen Russland, China, Iran, Indien, Nordkorea, Vietnam und immer mehr Ländern des globalen Südens und Lateinamerikas existieren und festigen sich. Und der Dollar sei dabei, seine Rolle als Weltwährung zu verlieren. [4] „Russland hat sowohl geografisch als auch kulturell eine sehr gute Position in dieser neuen Weltordnung“, meint Hauke Ritz. Die USA würden irgendwann „mehr eine abgelegene Insel sein. Entscheidend ist aber nicht die geografische Ordnung, sondern die zivilisatorischen Inhalte, die dann ins Zentrum rücken.“ [5] Da sieht der Autor gerade für Deutschland Chancen, zu Gunsten einer Friedensordnung auf dem eurasischen Kontinent wirksam zu werden. Das aber würde ein Umdenken in vielerlei Hinsicht bedeuten. Pop- und Lifestylekultur als westliche Soft Power „Besitzt der gegenwärtige Konflikt mit Russland eine kulturelle Dimension?“ Dieser bisher zu wenig thematisierten Frage widmet Hauke Ritz mehrere Texte. Nicht allein durch die skandalöse Ausgrenzung russischer Kultur in der deutschen Öffentlichkeit, es ist ein geistiges Kampffeld entstanden, was kulturelle Werte betrifft. Das hat gegenseitiges Unverständnis zur Folge und, mehr noch, eine Verhärtung von Positionen. Hauke Ritz: „Schon längere Zeit vor Beginn der Ukraine-Krise häuften sich die Meinungsverschiedenheiten zu kulturellen Fragen. Sowohl die Auseinandersetzung um die Punk-Band ‚Pussy Riot‘ als auch die Berichterstattung über die Rechte von Homosexuellen im Vorfeld der Olympischen Spiele in Sotschi“ wurden seitens des Westens zur Anklage Russlands genutzt, angeblich fortschrittliche Werte nicht zu teilen. [6] In der Folge haben sich die Positionen in Russland immer stärker zu einem Antiliberalismus verfestigt, der die politischen Konflikte in Europa spiegelt, aber ebenso auch dem Weltgefühl weiter Teile der Bevölkerung entspricht. Wir können das rückständig nennen, aber auch große Teile der deutschen Bevölkerung, zumal im Osten, können mit neoliberaler Identitätspolitik inzwischen auch nichts mehr anfangen. „Traditionelle Werte“ – das ist in Russland zum Kampfbegriff gegen den westlichen Liberalismus geworden. Wobei es solche verbindenden Werte einer paneuropäischen Kultur ja gab und zu Teilen immer noch gibt. Dazu zählt Hauke Ritz die Kultur der Arbeiterbewegung mit ihren politischen Utopien und ihren sozialen Gerechtigkeitsforderungen ebenso wie die Kultur des Bürgertums mit ihrer humanistischen Bildung, ihrem Geschichtsbewusstsein und ihrer Unterscheidung zwischen „hoher und niedriger“ Kunst. Soll man es Fortschritt nennen, dass dieses Wertgefüge in die Vergangenheit abgedrängt worden ist? Soll man das Orientierungsvakuum in den heutigen westlichen Gesellschaften als Ausdruck von Freiheit bezeichnen, weil jeder sich aussuchen kann, was er oder sie glaubt, ja wer er oder sie gerade zu sein beliebt? Wenn einem bewusst ist, wie immens die Möglichkeiten von Manipulation und Konstruktion angeblicher Wahrheiten geworden sind, führt das zur Verneinung alles Glaubwürdigen, ja auch Verbindenden. Für eine bessere Welt einzutreten, bringt immer weniger Menschen zusammen. Hauke Ritz meint nun, dass die Etablierung jener Pop- und Lifestylekultur, die heute im Westen zu einer beinahe unhinterfragten Normalität geworden ist, nicht allein nur aus sich selbst heraus geschah, sondern dass dies mit einem politischen Willen verbunden war. Dabei geht er besonders auch auf die Untersuchungen von Francis Stonor Saunders ein („Wer die Zeche zahlt… Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg“). Der „Congress for Cultural Freedom, 1950 gegründet, hatte sein zentrales Büro zunächst in Westberlin, dann in Paris. In 35 verschiedenen Ländern gab es Niederlassungen. Heute weiß man von mindestens 170 Stiftungen, die den Transfer von Mitteln ermöglicht haben. Nachdem die geheimdienstliche Finanzierung 1966 bekannt geworden war, wurde der CCR zwar 1969 aufgelöst. Aber das informelle Netzwerk von Kulturschaffenden und Zeitschriften blieb vorhanden, und die Neue Linke begann sich mit ihrem „Diversity“-Projekt mit dem Neoliberalismus zu verschwistern.” [7] Zweifellos reagierte die Pop-Kultur auf Massenbedürfnisse. Gleichzeitig aber wurde sie zur Softpower, um „Westeuropa für amerikanische Kultureinflüsse zu öffnen und zum anderen die Evolution der politischen Linken von den Hauptwidersprüchen des Kapitalismus auf seine Nebenwidersprüche umzulenken.“ [8] „Die Verschiebung der Identität linken Selbstverständnisses … weg von den Fragen des Eigentums, des Klassenkampfes und der Kritik am Imperialismus, hin zu einem postmodernen Wertesystem, das auf Menschenrechten, Minderheitenrechten, Umweltfragen und Lebensstilthemen basiert“ [9], ist inzwischen so wirkmächtig geworden, dass Fragen, Zweifel, Gegenmeinungen kaum mehr laut werden können. Krise des Westens: Chance für einen neuen Humanismus? Innen- wie außenpolitische Konflikte haben also durchaus eine kulturelle Dimension, die man im Auge behalten sollte, wenn man auf Lösungen bedacht ist. In dem Maße, wie der Plan einer unipolaren Weltordnung scheitert, meint der Autor, würde Europa eine Wandlung bevorstehen – selbstbewusster hin zu jenen Werten, mit denen wir in den letzten 500 Jahren eine Weltkultur prägten, und gleichzeitig zu mehr Respekt, was die Vielfalt anderer Lebensweisen betrifft. Dabei sieht Hauke Ritz zwei gefährliche Trends, die einander gegenseitig verstärken: den technologischen Trend, der zum ersten Mal in der Geschichte einen nahezu perfekten Überwachungsstaat ermöglicht, und den Trend zu einer immer größeren Vermögenskonzentration. Dagegen eine notwendige Besinnung auf die Werte humanistischer Kultur in Stellung bringen zu wollen, erscheint auf den ersten Blick vermessen. Doch geht der Autor zu Recht davon aus, dass diese Werte in vielen Menschen lebendig sind und in diesen turbulenten Zeiten Halt versprechen. Sich auf verbindende Werte der europäischen Kultur zu besinnen, Hauke Ritz ist nicht der Erste, der solcher Hoffnung Ausdruck gibt. Bei Andreas Reckwitz klang sie im Bilde eines eingehegten Liberalismus an.[10] Ingolfur Blühdorn sprach von einem „Weg in eine andere Moderne“. Was „diskursive Räume öffnen könne“, in denen das Bekenntnis zu Werten, die „in der Spätmoderne zunehmend verabschiedet werden – Inklusion in ein gutes Leben für alle in ökologischen Grenzen, Ethik des Miteinander, Demokratie, Verantwortlichkeiten“ –, weiter gepflegt werden kann. Wobei er auch die Gefahr sieht, dass es sich dabei nur um Simulationstechniken handelt, „während realgesellschaftlich die entgegengesetzte Logik gezielt forciert wird“. [11] Aus seiner genauen Russland-Kenntnis heraus weiß Hauke Ritz um den hohen Stellenwert von Kunst und Kultur dort, der immer auch den Blick auf Europa einschloss. Jahrhundertelang war Russland, allen Konflikten zum Trotz, von engen kulturellen Beziehungen zu Deutschland geprägt. Fast kommt es einem Wunder gleich, dass die Sowjetunion, die für den Sieg über den Hitlerfaschismus mit mindestens 27 Millionen Toten den höchsten Blutzoll bezahlte, sich nicht von der deutschen Kultur abkehrte, sondern hochgebildete Kulturoffiziere, meist Germanisten, schickte, um diese zu schützen. Daniil Granin und Lew Kopelew können für viele sowjetische Schriftsteller und Intellektuelle stehen, die damals Brücken zu jenem Land gebaut haben, gegen das sie im Krieg gekämpft hatten. Diese Brücken sind gerade im Osten Deutschlands nicht nur vorhanden, sondern auch weiterhin begehbar. Die politisch proklamierte Russophobie stößt dort auf Unverständnis, ja auf Ablehnung, weil man sich der gefährlichen Folgen bewusst ist. Die Erfahrung in zwei Gesellschaftssystemen hat zu einer geradezu selbstverständlichen Widerstandskraft geführt, was ideologische Manipulation betrifft. „Es ist der entscheidende Unterschied zwischen der Bundesrepublik und der DDR, dass die Bürger in der DDR wussten, dass sie politisch belogen wurden, während die meisten in der (alten) Bundesrepublik Deutschland dachten und denken, das könne ihnen nie ieren“, stellt Ulrike Guérot fest, die den Osten jetzt erst kennenlernte. „Der deutsche Osten scheint mir heute die Herzkammer der Republik zu sein… da, wo der Sozialismus – wie schlecht auch immer er war – noch residuale Formen von Gemeinschaft und sozialer Sorge hinterlassen hat …“ [12]; und ein Kulturverständnis, so ließe sich hinzufügen, das stärker humanistischen Traditionen verbunden ist und mit der neoliberalen Postmoderne wenig anfangen kann. Realitätsverweigerung führt in die Sackgasse Es ist plausibel, dass Verhandlungen zwischen den USA und Russland im Gange sind, ohne dass die Ukraine und die EU mit am Tisch sitzen. Es war und ist ein Stellvertreterkrieg, das wird von Trump nicht mehr geleugnet. Die Ukraine sieht sich getäuscht und ausgebootet, schließlich wurde seitens des Westens versprochen, dass ein Sieg ohne Gebietseinbußen zu haben ist. Aber die werden unumgänglich sein. Vom zweistündigen Telefonat zwischen Trump und Putin am Montag über eine gesicherte Verbindung erfährt man nur wenige Details. Dass Putin die Bereitschaft unterstrich, an einem „Memorandum“ mit der Ukraine zu arbeiten, das zu einer Friedenslösung führt und einen Waffenstillstand einschließt, kann Trump als Erfolg verbuchen. Aber ein Friedensvertrag ist nur durch schwierige Verhandlungen zu haben und nicht dadurch, dass Westeuropa den „Druck“ auf Moskau erhöht, wie Kanzler Merz wieder einmal verlautbarte. Wie derlei Realitätsverweigerung in eine Sackgasse führt, kann einem in der Tat Angst machen. Insofern hängt der Weltfrieden tatsächlich von Deutschland ab. Wir können uns um eine Russland einbeziehende Friedensordnung in Europa bemühen, die mit der Charta von Paris schließlich schon einmal angedacht worden ist, oder uns dem Narzissmus unseres Kanzlers beugen, die Bundeswehr zu Europas „stärkster Armee“ zu machen. [13] – mit der Aussicht, sie dann auch gen Osten einzusetzen. Chancen für Europa Wir leben mit Russland auf einem Kontinent. Sich auf Dauer voneinander abzuschotten, sich gar feindlich zu verhalten, wäre von Schaden für beide Seiten. Für Russland weniger, wo man sich gezwungenermaßen inzwischen stärker nach Osten und nach Süden orientierte. Für Deutschland schon. Insofern hat Hauke Ritz ein Buch geschrieben, das in die Zukunft weist. „Der wirtschaftliche Wind in den Segeln, der Europa von Westen nach Osten zieht, kann auch zu der Kraft werden, die Europa helfen wird, sich aus dem gegenwärtigen Abwärtssog des kulturellen Nihilismus zu befreien und die Schätze seines vergangenen intellektuellen Lebens neu zu entdecken und wiederzubeleben.“ [14] Wir haben uns in eine Ecke manövriert, aus der wir herausfinden müssen. „Europa muss die paradoxe Bewegung vollziehen, einerseits den neuen Realismus aus den USA zu übernehmen und sich andererseits gerade aufgrund dieses Realismus von den USA zu lösen, um zu einem eigenständigen Pol in der multipolaren Welt zu werden.“ [15] Nicht durch Aufrüstung, durch neue Großmachtgelüste, mit der wir unsere Vernichtung riskieren, sondern als Friedensmacht. Hauke Ritz: Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt. Neu-Isenburg 2025, Westend Verlag, Taschenbuch, 224 Seiten, ISBN 978-386489491624, Euro. Titelbild: Tricreative project / Shutterstock [«1] Hauke Ritz, S. 157 [«2] Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. C. H. Beck 2025, 119 S., br., 15 Euro. [«3] Hauke Ritz, S. 158 [«4] finanzmarktwelt.de/warum-sich-der-weltweite-trend-weg-vom-dollar-beschleunigt-348379/ [«5] Hauke Ritz, S. 185 [«6] ebenda, S. 15 [«7] ebenda, S. 113 [«8] ebenda, S. 79 [«9] ebenda, S. 39 [«10] Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Edition Suhrkamp 2019, 306 S., br., 18 Euro. [«11] Ingolfur Blühdorn: Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Edition Suhrkamp 2024, 284 S., br., 20 Euro. [«12] Ulrike Guérot: Zeitenwenden. Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart. Westend Verlag 2025, 223 S., geb., 24 Euro. [«13] bild.de/politik/inland/merz-plan-kann-die-bundeswehr-europas-staerkste-armee-werden-6827364da6a34a0a03285a0e [«14] Hauke Ritz, S. 51 [«15] ebenda, S. 212
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„Wir sind keine Bewegung, wir sind eine Partei“
„Wir sind keine Bewegung, wir sind eine Partei“
Alexander King ist Gründungsmitglied des BSW und Landesvorsitzender der Partei in Berlin. Seit seinem Bruch mit der Linksfraktion sitzt er als fraktionsloser Einzelabgeordneter im Berliner Landesparlament. Im Interview mit Rainer Balcerowiak skizziert King die aktuelle Situation des BSW und die anstehenden Aufgaben. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Rainer Balcerowiak: Das BSW ist immer noch damit beschäftigt, den Schock des verten Einzugs in den Bundestag zu verarbeiten. Wo steht denn die Partei jetzt? Alexander King: Sie steht jetzt vor allem am Anfang, jedenfalls was den Strukturaufbau betrifft. Bislang waren wir quasi permanent in Wahlkämpfen. Jetzt ist wichtig, dass wir Gebietsverbände gründen und sehr viele neue Mitglieder aufnehmen. Und was den Schock betrifft: Natürlich wäre die Stimmung besser, wenn wir es geschafft hätten. Aber ein Schock wäre es gewesen, wenn wir jetzt wirklich nur drei Prozent, wie manche Umfrageinstitute uns vorausgesagt haben, erreicht hätten. Das Ergebnis von fünf Prozent war für mich jedenfalls kein Schock. Das BSW hat seit seiner Gründung in starkem Maße von der Beliebtheit und der Medienpräsenz seiner Gründerin und Bundestagsgruppenvorsitzenden Sahra Wagenknecht gelebt. Doch beides ist seit der verlorenen Wahl zurückgegangen. Die von ihr bzw. in ihrem Namen verbreiteten BSW-Statements wirken seitdem manchmal redundant, ohne nennenswerte Außenwirkung. Wie kann das BSW medial und politisch wieder in die Offensive kommen? Also ich finde nicht, dass ihre Statements redundant und ohne Außenwirkung sind. Besonders wenn es um die Ukraine-Politik Deutschlands geht, wird Sahra Wagenknecht nach wie vor in vielen Medien teilweise ausführlich zitiert. Aber es ist natürlich schwieriger geworden. Medienarbeit funktioniert sehr stark auch über die parlamentarische Arbeit. Das merke ich auch in Berlin. Ich komme ja nicht als BSW-Landesvorsitzender in die Medien, sondern vor allem als Abgeordneter. Die Kapazitäten, die wir im parlamentarischen Bereich haben, müssen wir stärker nutzen. Wir haben nicht nur eine Bundestagsgruppe verloren, sondern wir haben eine Gruppe im Europaparlament dazugewonnen, und wir haben drei Fraktionen in Landesparlamenten. Fabio De Masi als EU-Abgeordneter macht das sehr gut, er ist medial sehr präsent, aber wir haben noch viele andere Leute, die wir ein bisschen nach vorne bringen müssen. In der Aufarbeitung der Wahlschlappe bei der Bundestagswahl werden neben der organisatorischen Schwäche oft die anhaltenden Querelen in Thüringen genannt. Das hat sicherlich eine Rolle gespielt, schließlich hat das BSW nach der Koalitionsbildung in Thüringen bei der Bundestagswahl 66.000 Stimmen im Vergleich zur Landtagswahl verloren. Aber wenig hört man über die Bedeutung des Abstimmungsverhaltens der BSW-Gruppe im Bundestag Ende Januar bei den Anträgen der CDU zur Migrationspolitik. Will man darüber jetzt nicht mehr reden? Bei dem Entschließungsantrag der CDU haben wir uns enthalten, und dem Gesetzentwurf der CDU haben wir zugestimmt, weil es unserer politischen Programmatik entsprach. Bestandteile dieses Gesetzentwurfs, der damals so skandalisiert wurde, sind heute Teil des Koalitionsvertrags. Es waren ja keine vollkommen abwegigen Forderungen, die da drinstanden. Da ging es um Kompetenzen für die Bundespolizei und um das Aufenthaltsgesetz mit der Zielsetzung, dass man eben Zuwanderung nicht nur kontrollieren, sondern auch begrenzen möchte. Ich bin jedenfalls nicht der Meinung, dass uns das stark geschadet hat, weil sich das überhaupt nicht abbildet, wenn man die Umfragen betrachtet. Wir standen nach den Abstimmungen nicht schlechter da als in den Wochen davor. Eher im Gegenteil: Je näher die Wahlen rückten, desto mehr sind ja die meisten Umfrageinstitute wieder an die Fünf-Prozent-Hürde gerückt, auch solche, die uns bis dahin teilweise nur noch bei drei Prozent gesehen haben. Also jenseits von subjektiven Erzählungen über Menschen, die sich nach diesen Abstimmungen von uns abgewendet haben, lässt sich nicht belegen, dass uns das geschadet hat. Und dieser Gesetzentwurf ist ja nicht vom Himmel gefallen, der war schon seit Herbst 2024 im Verfahren, in den Ausschüssen, und da haben wir auch zugestimmt. Wie hätte das denn ausgesehen, wenn wir dann plötzlich aus Opportunismus unser Abstimmungsverhalten verändert hätten? Das hätte unserer Glaubwürdigkeit sehr stark geschadet. Die Rückmeldungen, die wir nach den Abstimmungen erhalten haben, waren sehr unterschiedlich. Einige hatten den Tenor, deswegen kann ich euch nicht mehr wählen. Aber mehrheitlich war der Tenor, wenn ihr nicht zugestimmt hättet, dann hätten wir euch nicht mehr gewählt. Insofern war es für uns eine schwierige Situation, in der wir nichts gewinnen konnten. Die in der Anfangszeit nachvollziehbare, sehr restriktive Aufnahmepraxis für Mitglieder hat sich nicht nur im Wahlkampf als Hemmschuh für das BSW entwickelt. Die Partei ist offensichtlich nicht umfassend kampagnenfähig. War und ist das BSW durch seine starke Fixierung auf parlamentarische Repräsentanz überhaupt in der Lage, sich auch als starke außerparlamentarische Opposition zu formieren und breite politische Bewegungen zu initiieren? Die restriktive Aufnahmepolitik war gut begründet und auch sinnvoll am Anfang. Hätte es die vorgezogene Bundestagswahl nicht gegeben, dann hätten wir bis zum regulären Termin natürlich viel mehr Mitglieder gehabt und auch viel mehr Unterstützer, die quasi die Aufnahme als Mitglied vor Augen gehabt hätten. So hatten wir wirklich zu wenig Manpower. Denn der Wahlkampf findet zwar auch im Netz, aber im Wesentlichen auch auf der Straße statt. Und bei vielen Unterstützern, die nach mehreren vorangegangenen Wahlkämpfen immer noch keine Mitglieder waren, sank natürlich auch die Motivation. Deswegen ist uns das ein bisschen auf die Füße gefallen. Es war trotzdem richtig, weil wenn wir von Anfang an die Tore aufgemacht hätten, dann gäbe es uns vielleicht schon gar nicht mehr. Aber jetzt muss es eine Änderung geben, und die gibt es auch. Das Ziel ist, alle Unterstützer, die das wollen, aufzunehmen, wobei wir natürlich weiterhin darauf achten, absolute Querulanten fernzuhalten. Nicht nur für Wahlkämpfe, sondern auch für außerparlamentarische Kampagnenfähigkeit braucht man viele Leute, richtig. Aber man braucht auch den Willen und die Fähigkeit der Parteispitze, sich darauf zu orientieren. Sahra Wagenknecht hat wenige Wochen vor der Wahl gesagt: „Wer nicht im Bundestag ist, ist in der deutschen Politik kein relevanter Faktor mehr.“ Klingt das nicht eher demotivierend? Eine politische Partei gründet sich, um gewählt zu werden und im Parlament eine Rolle zu spielen und eben die Interessen oder den Ärger der Wähler ins Parlament zu tragen. Aber wir müssen natürlich trotzdem auch auf der Straße sichtbar sein. Waren wir auch, etwa bei den Ostermärschen, wo wir als BSW deutlich präsent waren; oder am 8.Mai, wo unsere Kranzniederlegungen an Ehrenmalen auch medial rezipiert wurde. Am Ehrenmal am Berliner Tiergarten ging es auch um das Auftreten von ukrainischen Gruppen, mit übelster antirussischer Hetze und sogar einer NATO-Flagge. Da wurden dann z.B. die Parteivorsitzende Amira Mohammed Ali und ich im Tagesspiegel zitiert. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass man nicht nur mit parlamentarischer Arbeit, sondern auch mit öffentlicher Präsenz Wirkung erzielen kann. Trotzdem: Wir sind keine Bewegung, wir sind eine Partei, die natürlich auch auf der Straße so gut wie es geht sichtbar sein muss – jetzt, wo wir nicht mehr im Bundestag sind, erst recht. Im kommenden Jahr stehen fünf Landtagswahlen auf dem Programm. In mehreren Landesverbänden häufen sich derzeit, aus welchen Gründen auch immer, aber Austritte; zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern, wo sich in Rostock, der größten Stadt, sogar die BSW-Stadtratsfraktion aufgelöst hat. Und die Landespartei ist in Umfragen von teilweise bis zu 16 Prozent inzwischen auf sechs Prozent eingebrochen. Was läuft da schief, und was muss man tun? Ich kann anderen Landesverbänden keine Tipps geben und kann auch die Situation in Meck-Pomm nicht beurteilen. Aber ich halte solche Prozesse in der Aufbauphase einer Partei, was ja ein sehr steiniger und schwieriger Weg ist, für normal und unvermeidlich. Da kommen Leute zusammen, die sich nicht kennen, die vielleicht auch unterschiedliche Vorstellungen haben von dem, was das BSW sein soll, und dann gibt es Klärungsprozesse. Manche Leute gehen dann auch wieder, manche kommen dann neu dazu und so weiter. Also da mache ich mir jetzt nicht so viele Gedanken. Das sind sozusagen Wachstumsschmerzen. Kommen wir mal zu Berlin, wo 2026 ebenfalls gewählt wird. Im Vergleich zu anderen Bundesländern hat sich das Berliner BSW bei der Bundestagswahl recht gut gehalten, auch im Vergleich zum EU-Wahlergebnis. Die Partei liegt in Umfragen dort stabil bei sieben Prozent. Dennoch scheint es im Landesverband auch ziemlich zu knirschen. Etwas zugespitzt formuliert: Wenn man sich bei bestimmten BSW-Events ein bisschen umhört, bekommt man schnell den Eindruck, dass es einigen der immer noch handverlesenen Mitglieder weniger um politische Kampagnenfähigkeit geht, sondern um die Bildung von Seilschaften im Hinblick auf künftige Mandate, Jobs und Posten. Wie erleben Sie das denn? Das will ich nicht bestreiten. Das ist leider etwas, was dem Wesen von Parteien immanent ist. Parteien haben den Daseinszweck, das politische Personal zu rekrutieren und Mandate zu vergeben. Natürlich gibt es immer Leute, denen das besonders wichtig ist. Und wir haben jetzt eine Wahl vor der Tür, da spürt man das schon, dass sich da Leute irgendwie in Positionen bringen wollen. Das beunruhigt mich jetzt nicht total, aber es darf halt nicht Überhand nehmen. Ich möchte schon, dass wir vor allem über Politik sprechen und über das, was die Bürger bewegt; und nicht so viel darüber, wer sich jetzt wie am besten in Stellung bringt für die Aufstellungen im nächsten Jahr. Öffentlich und inhaltlich einigermaßen sichtbar ist das BSW eigentlich nur bei Veranstaltungen rund um die Kernthemen Frieden und Aufrüstung – und das auch nur recht begrenzt, wie etwa beim Ostermarsch. Auch wenn Sie den als Erfolg einschätzen: Es ist doch nach wie vor so, dass jede Schwurbel-Demo „gegen Rechts“ deutlich mehr Menschen auf die Straße bringt als zum Beispiel der Ostermarsch. Da komme ich wieder zu der Frage: Ist das BSW überhaupt willens und in der Lage, sich auch als Bewegungspartei zu entwickeln? In der Aufbruchphase, das war noch vor der BSW-Gründung, kamen im Februar 2023 rund 50.000 Menschen zu einer großen Friedenskundgebung mit Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zum Brandenburger Tor. Wo sind die denn jetzt alle? Schwierige Frage. Das war ein toller Moment, aber der lässt sich auch nicht beliebig oft wiederholen, das war ja auch ein riesiger organisatorischer Kraftakt. Das waren ja auch nicht die klassischen Demo-Teilnehmer, sondern viele Familien und Menschen aus ganz unterschiedlichen Altersklassen, ganz normale Leute. Und die haben normalerweise was anderes zu tun, als auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Bei den „Gegen Rechts“-Demos ist das ganz was anderes. Das sind gut vernetzte, hochaktive Menschen mit hoher Zeitautonomie, also privilegierte Schichten. Das ist halt eine andere Klasse, sage ich mal, die da auf die Straße geht. Aber natürlich ist es eine zentrale Aufgabe für uns und die ganze Friedensbewegung, wieder mehr Leute zu mobilisieren und vielleicht auch manchmal aus gewohnten Gleisen ein bisschen rauszufahren und zu gucken, wie man wirklich wieder breiter wird. Das BSW ist unbestritten die einzige nennenswerte politische Kraft, die konsequent gegen Krieg, Aufrüstung und Militarisierung der gesamten Gesellschaft steht. Aber reicht das wirklich aus, um zum Beispiel bei Landtagswahlen als umfassende Alternative für Vernunft und Gerechtigkeit wahrgenommen zu werden? Noch mal zu Berlin: Da brennt es an allen Ecken und Enden. Mieten, Bauen, Wohnungslosigkeit, Verkehr, Schulen, Gesundheitsversorgung, Kultur usw. Manchen BSW-Mitgliedern scheint aber zu reichen, sich mit Friedenstransparenten bei irgendwelchen Kleinkundgebungen oder am Rand größerer Veranstaltungen in Szene zu setzen, um das dann fleißig bei Facebook, X oder Instagram in entsprechenden Blasen zu verbreiten. Aber was hat das BSW denn landespolitisch zu bieten? Zum einen ist unser „Markenkern“ ja auch in der Landes- und Bezirkspolitik wichtig. Da geht es z.B. um Fragen wie Bundeswehr-Werbung an Haltestellen und Fahrzeugen der Verkehrsbetriebe. Oder es geht um die rund 200.000 russischstämmigen Bürger in Berlin, die durch diese Kriegsrhetorik an den Rand gedrängt werden. Dann geht es auch um Städtepartnerschaften und wie die von Berliner Seite betrieben werden, etwa zu Moskau, Kiew oder Tel Aviv. Das sind alles auch landespolitische Themen, die mit Friedenspolitik zu tun haben. Aber wir vernetzen uns auch in anderen Bereichen, vor allem in Bezug auf die katastrophale Wohnraumlage in Berlin. Ich mache sehr viel mit Mieterinitiativen, deren Belange ich dann auch als Anfragen in das Abgeordnetenhaus bringe. Und in den Bezirken machen das unsere Vertreter auch. Das ganze Thema Mieten/Wohnen ist für uns extrem wichtig. Ich werde im Abgeordnetenhaus auch in den Stadtentwicklungsausschuss wechseln. Verkehr ist auch ein wichtiges Thema. Wir stehen ja für eine andere Verkehrspolitik als zum Beispiel Die Linke oder die Grünen. Wir sind zwar nicht die „Autopartei“, aber auch nicht die autofeindliche Partei. Was da in einigen Teilen der Stadt mit Verpollerung von Durchgangsstraßen und Wegfall von Parkplätzen iert, sorgt für gewaltigen Unmut. Das muss natürlich für die Wahlen im Herbst 2026 alles noch genauer und konkreter gefasst werden. Es gibt politische Eckpunkte des Landesvorstands und insgesamt 15 Arbeitsgruppen zu den verschiedenen Themenbereichen, die weiter daran arbeiten. Und durch die forcierte Aufnahme neuer Mitglieder werden wir auch viel sachbezogene Expertise dazugewinnen. Welche Zielgruppen kann und will das BSW eigentlich erreichen? Während die eigentlich schon tot geglaubte Linke vor allem bei jüngeren Menschen enormen Zulauf verzeichnet und bei den Bundestagswahlen in Berlin sogar stärkste Partei wurde, hat das BSW in diesen Gruppen eher wenig Zulauf. Schräge Statements wie das von Sevim Dagdelen gegen die Entkriminalisierung des Cannabiskonsums wirken da auch seltsam aus der Zeit gefallen. Und das betrifft auch die soziokulturellen Äußerungsformen, wie sie Die Linke entwickelt und perfektioniert hat. Hat das BSW da komplett was verschlafen? So würde ich das nicht sehen. Unser Wahlergebnis bei den unter 25-Jährigen liegt prozentual sogar etwas höher als im Gesamtergebnis. Aber wir sind jetzt nicht darauf aus, irgendwie so wie Heidi Reichinnek daherzukommen und eine Jugendkultur mitzuspielen. Das ist auch substanzlos und billiger Populismus und hat mit Vernunft und Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun. Und was jetzt die Sache mit Cannabis betrifft: Ich weiß, dass Sevim da einen konservativen Standpunkt hat. … aber musste sie den unbedingt in einer eigenen persönlichen Erklärung verbreiten? Das ging in sozialen Netzwerken viral und hat mit Sicherheit einiges an Zustimmung, besonders unter jüngeren Leuten, gekostet. Das ist ihr gutes Recht, und Sahra Wagenknecht hat auch mehrfach klargestellt, dass sie da eine andere Position vertritt. Aber man kann doch nicht einfach ausblenden, dass man keinen soziokulturellen Zugang zu bestimmten Gruppen hat, die nicht ganz unwichtig sind. Man kann Die Linke für ihre Politik mit vollem Recht in Grund und Boden kritisieren; aber dafür, dass sie erfolgreich in sozialen Medien auftritt und damit Aufmerksamkeit und auch Anhängerschaft generiert, wohl nicht. Wenn jemand Erfolg hat, hat er irgendwas richtig gemacht. Wir sind da sicher auch noch ausbaufähig. Wir haben uns lange, und das war ja auch richtig, auf die große Social-Media-Präsenz von Sahra verlassen, und sie hat ja immer noch eine große Reichweite. Trotzdem müssen wir natürlich weitere Leute da aufbauen und auch die Social-Media-Aktivität der Partei an sich ausbauen. Das ist aber auch eine Geld- und Personalfrage, und da sind wir erst am Anfang. Wir arbeiten auch am Aufbau einer Jugendstruktur des BSW. Wobei man sich fragen muss, wen man erreichen will. Das sind vermutlich soziokulturell anders geprägte junge Menschen als die, die Die Linke erreicht. Also ich will vor allem auch den Lehrling, den Maurer, die Friseurin erreichen und jetzt nicht unbedingt nur die Abiturientin und den Studenten. Die klassische Abschlussfrage: Wie wird das BSW nach Ihrer Einschätzung in einem Jahr dastehen? Das BSW wird auch in einem Jahr noch bestehen und weiter wachsen, weil der politische Platz, den wir eingenommen haben, sonst unbesetzt bliebe. Für Berlin bin ich mir sicher, dass wir dann mit einem sehr guten Programm und sehr guten Kandidaten in den Wahlkampf für das Abgeordnetenhaus starten, getragen von einer stabilen Basis mit deutlich mehr Mitgliedern und Unterstützern. Titelbild: © prviat
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Zionismuskritische jüdische Stimmen im deutschen Mediensystem – Eine Analyse ihrer Marginalisierung seit 1948
Zionismuskritische jüdische Stimmen im deutschen Mediensystem – Eine Analyse ihrer Marginalisierung seit 1948
Von der Gründung des Staates Israel bis in die Gegenwart ist der deutsche Diskurs über den Zionismus von einer bemerkenswerten Enge geprägt. Während die Medien in pluralistischen Demokratien wie den USA oder Großbritannien regelmäßig jüdische Stimmen zu Wort kommen lassen, die den Zionismus oder die israelische Regierungspolitik dezidiert kritisieren, erscheinen solche Positionen in den deutschen Leitmedien seit 1948 – wenn überhaupt – nur randständig, verzerrt oder in delegitimierender Weise. Diese Marginalisierung ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines historisch gewachsenen, institutionell stabilisierten und medial reproduzierten Meinungskorridors. Von Detlef Koch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Die kritische Frage, welche Risiken damit für die demokratische Debattenkultur einhergehen, wurde lange kaum gestellt. Dabei ist der Ausschluss innerjüdischer Dissidenz aus dem öffentlichen Diskurs nicht nur ein medienpolitisches, sondern ein demokratiepolitisches Problem. Die historische Genese: Schuld, Solidarität, SchweigenDie Ursachen dieser systematischen Ausblendung zionismuskritischer jüdischer Positionen reichen tief in die Nachkriegszeit zurück. Der Holocaust und die daraus erwachsene Schuld der Deutschen schufen ein moralisches Klima, in dem Kritik am jüdischen Staat – und sei sie noch so sachlich oder innerjüdisch – schnell als pietätlos galt. Israel wurde als Symbol der jüdischen Wiedergeburt und als Projekt historischer Wiedergutmachung verklärt. In dieser Logik war das Selbstbestimmungsrecht der Juden sakrosankt – Kritik an dessen realpolitischer Ausgestaltung galt als ungehörig. Dies betraf selbst solch herausragende jüdische Intellektuelle wie Hannah Arendt oder Martin Buber. Ihre Warnungen vor einem ethnonationalistischen Staatsmodell und ihre Plädoyers für eine binational-demokratische Ordnung fanden in deutschen Medien kaum Resonanz. Vielmehr wurden ihre Positionen – wenn überhaupt – als theoretische Exzentrik oder gar als „jüdischer Selbsthass“ etikettiert. Mit der Erklärung der Sicherheit Israels zur „Staatsräson“ (Merkel, 2008) wurde diese symbolische Loyalität institutionell verankert. Sie wurde zum Prüfstein deutscher Identität – mit Folgen für den Journalismus: Medien, die über Kritik an Israel berichten, riskieren den Vorwurf, sich außerhalb des staatstragenden Konsenses zu bewegen. Institutionelle Einhegungen: Zentralrat, Gremien, DeutungshoheitEntscheidend für die Diskurshoheit über „das Jüdische“ in Deutschland ist die Rolle des Zentralrats der Juden. Dieser beansprucht seit Jahrzehnten die alleinige Vertretung jüdischer Interessen – und tut dies fast ausschließlich aus einer israelsolidarischen Perspektive. Zionismuskritische Juden wie Rolf Verleger oder Evelyn Hecht-Galinski wurden daher öffentlich marginalisiert oder institutionell ausgeschlossen. Verleger verlor nach seiner Kritik am Libanonkrieg 2006 seinen Sitz im Zentralrat. In der medienpolitischen Praxis führt dies dazu, dass fast ausschließlich Vertreter dieser loyalistischen Linie als Gesprächspartner eingeladen oder zitiert werden. Alternative Organisationen – etwa die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden“ oder das internationale Netzwerk „Jewish Voice for Peace“ – tauchen nur dann in Berichterstattung auf, wenn sie skandalisiert werden, z. B. im Zusammenhang mit BDS-Unterstützung oder provozierenden Aktionen. Die journalistische Praxis: Von der Unsichtbarkeit zur VerdächtigungDie mediale Behandlung zionismuskritischer jüdischer Stimmen folgt einem wiederkehrenden Muster: Sichtbar werden sie meist erst durch Kontroversen – und dann in einem abwertenden Ton. Judith Butler, eine bedeutende jüdische Philosophin, wurde 2012 nicht für ihre ethische Kritik am Staatsnationalismus gewürdigt, sondern als „umstrittene BDS-Unterstützerin“ porträtiert. Ihre Gegendarstellungen erschienen nur verzögert und nach öffentlichem Druck. Neturei Karta, eine ultraorthodoxe, anti-zionistische Gruppierung, wurde von der Welt als „Fanatiker“ und „Israel-Hasser“ betitelt – ohne ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrer theologischen Argumentation gegen einen säkularen jüdischen Staat. Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann, ein scharfer Kritiker des politischen Zionismus, wurde vom Deutschlandfunk Kultur pauschal als „polemisch“ und „psychologisch spekulativ“ abgetan. Seine inhaltlichen Argumente über die politische Funktion des Antisemitismusvorwurfs wurden nicht aufgenommen, sondern psychologisiert. Hinzu kommt ein strukturierendes Framing: Jüdische Israelkritik wird routinemäßig als „extrem“, „randständig“ oder „nicht repräsentativ“ dargestellt. Selbst ein Offener Brief von Holocaust-Überlebenden, die Israels Gaza-Politik kritisierten, wurde in Spiegel Online relativiert, indem betont wurde, viele Unterzeichner seien „nur Angehörige“. Die demokratische Dimension: Was die Ausgrenzung kostetDiese Ausblendung hat weitreichende Folgen. Sie beschneidet die Meinungsvielfalt innerhalb des jüdischen Spektrums, fördert ein monolithisches Bild vom „Judentum“ als staatsloyale, pro-zionistische Formation – und verstärkt so die gefährliche Tendenz, jüdische Identität mit israeltreuer Haltung gleichzusetzen. Dadurch entsteht paradoxerweise eine Konstellation, in der ausgerechnet Juden, die an universalistische Ethiken, pazifistische Traditionen oder diasporische Identitäten anknüpfen, aus dem Diskurs ausgeschlossen werden – oft unter dem Vorwurf des Antisemitismus. Diese Logik pervertiert nicht nur den Begriff des Antisemitismus, sie gefährdet auch die demokratische Debattenkultur. Wenn jüdische Kritik an Israel – ob aus theologischer, historischer oder politisch-ethischer Motivation – reflexhaft delegitimiert wird, dann wird der öffentliche Raum enger. Die deutschen Medien riskieren, zur Bühne einer Selbstzensur zu werden, bei der bestimmte Fragen als unzulässig gelten – nicht weil sie polemisch, sondern weil sie historisch belastet sind. Wie Jacobin 2024 analysierte, kulminiert diese Praxis in einer „gefährlichen Verzerrung“: Deutschland stilisiert sich zum Wächter Israels – und verdrängt dabei, dass gerade jüdische Kritik ein Ausdruck lebendiger, pluraler Tradition ist. Erste Öffnungen – und ihr PotenzialEs gibt Anzeichen für eine allmähliche Öffnung: Tagesspiegel und Deutschlandfunk Kultur publizieren vereinzelt differenzierte Positionen. Persönlichkeiten wie Avi Primor oder Moshe Zimmermann intervenieren öffentlich gegen den Antisemitismusverdacht gegenüber jüdischen Israelkritikern. Solche Gesten haben Wirkung – und könnten helfen, einen breiteren, inklusiveren Diskurs zu ermöglichen. Doch der strukturelle Druck bleibt hoch. Die Angst vor Skandalisierung, institutionellem Gegenwind oder Anzeigen boykottfreudiger Verbände wie dem Zentralrat hemmt weiterhin viele Redaktionen. Es braucht daher nicht nur einzelne Beiträge, sondern eine konsequente journalistische Selbstvergewisserung: Wie viel Pluralität verträgt der Diskurs? Und welche Stimmen fehlen – gerade, weil sie unbequem sind? Fazit Die Marginalisierung zionismuskritischer jüdischer Stimmen in deutschen Leitmedien ist kein mediales Randphänomen, sondern ein zentrales Symptom einer diskursiven Verengung. Sie ist historisch erklärbar, institutionell abgesichert und journalistisch dokumentierbar – aber demokratisch riskant. Denn eine Debatte, die zentrale innerjüdische Kontroversen systematisch ausblendet, beraubt sich nicht nur kritischer Perspektiven, sondern verliert auch an Integrität. Gerade in Zeiten zunehmender Polarisierung und identitätspolitischer Instrumentalisierung wäre es eine journalistische Tugend, die Vielfalt jüdischer Stimmen sichtbar zu machen – auch und gerade dann, wenn sie dem dominanten Konsens widersprechen. Meine verwendeten Quellen: Martin Kloke: Israel und die deutsche Medienöffentlichkeit, Tel Aviver Jahrbuch 2005 deutschlandfunk.de Deutschlandfunk Kultur, 23.02.2014 deutschlandfunkkultur.de Welt, 11.02.2014 welt.de ZEIT Online, 01.11.2013 zeit.de Tagesspiegel, 18.10.2021 tagesspiegel.de Jacobin, 15.10.2024 jacobin.de Jüdische Allgemeine, 26.08.2014 juedische-allgemeine.de Deutschlandfunk, 30.05.2005 deutschlandfunk.de Deutschlandfunk Kultur, 01.08.2020 deutschlandfunkkultur.de Titelbild: Pixel-Shot / Shutterstock
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Wieso stimmte Bundesregierung gegen Überprüfung von Menschenrechtsverstößen Israels durch die EU?
Wieso stimmte Bundesregierung gegen Überprüfung von Menschenrechtsverstößen Israels durch die EU?
Bundeskanzler Friedrich Merz hatte direkt nach Amtsantritt eine neue deutsche Führungsrolle in der EU verkündet. Doch die einseitige Israel-Politik der CDU-geführten Bundesregierung hat bisher zum genauen Gegenteil geführt. Deutschland findet sich immer mehr in einer Minderheitenposition in der EU wieder. Diese Woche am 20. Mai stimmte Berlin gegen die überwiegende Mehrheit der EU-Länder, die einem niederländischen Vorschlag gefolgt waren, eine Prüfung einzuleiten, ob Israel mit dem Vorgehen in Gaza gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen gemäß Artikel 2 des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel verstoßen hat. Die NachDenkSeiten wollten wissen, mit welcher Begründung sich Deutschland gegen eine solche Überprüfung ausgesprochen hat. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Hintergrund Am 20. Mai erklärte der niederländische Außenminister Caspar Veldkamp, dass die Initiative seines Landes, von der EU-Kommission untersuchen zu lassen, ob Israel mit dem Vorgehen in Gaza nicht gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen gemäß Artikel 2 des Assoziierungsabkommens EU-Israel verstoßen hat, eine „breite Unterstützung“ der EU-Mitgliedsstaaten erhalten habe: „Die humanitäre Lage in Gaza ist katastrophal. Um das Leid zu lindern, bedarf es dringend massiver Hilfe. Es ist gut, dass die EU heute ein starkes Signal an Israel gesendet hat, die humanitäre Blockade vollständig und so schnell wie möglich aufzuheben. Mit der Ankündigung einer Untersuchung zur Einhaltung von Artikel 2 des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel reagierte die Hohe Vertreterin der EU, Kaja Kallas auf eine niederländische Anfrage, die heute breite Unterstützung von den EU-Mitgliedstaaten erhielt.“ By announcing an investigation into compliance with Article 2 of the Association Agreement between the EU and Israel, EU High Representative @KajaKallas responded to a Dutch request that received broad from EU member states today. 2/3 — Caspar Veldkamp (@ministerBZ) May 20, 2025 Dies bestätigte wenig später auch die Hohe Vertreterin der EU für Außenpolitik, Kaja Kallas, gegenüber Reportern in Brüssel: „Aus den heutigen Diskussionen geht klar hervor, dass eine starke Mehrheit für eine Überprüfung von Artikel 2 unseres Assoziierungsabkommens mit Israel ist.“ Artikel 2 des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel, welches umfassend die Handels- und diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Seiten regelt, besagt, dass die Beziehungen „auf der Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Grundsätze beruhen, von denen sich ihre Innen- und Außenpolitik leiten lässt und die ein wesentliches Element dieses Abkommens darstellen“. Das Abkommen ist von zentraler Bedeutung für Israel, da die EU, weit vor den USA, Israels größter Handelspartner ist – das Handelsvolumen beläuft sich auf über 45 Milliarden Euro pro Jahr. Der Brüssel-Korrespondent von Euronews, Jorge Liboreiro, veröffentlichte wenig später das Abstimmungsverhalten der EU-Mitgliedsländer. Daraus geht hervor, dass 17 EU-Länder sich für die Überprüfung des Assoziierungsabkommens mit Israel aussprachen, darunter eigentlich alle engen Verbündeten Deutschlands innerhalb der EU: Frankreich, Spanien, alle nordischen und baltischen Länder. Dagegen stimmten 9 Länder, neben Deutschland unter anderem auch Ungarn und Italien. Österreich enthielt sich als einziges Land: We can now reveal where each country stood during the meeting: In favour: Against: Neutral: https://t.co/y9U4GloJVl — Jorge Liboreiro (@JorgeLiboreiro) May 20, 2025 Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu lächerlich an, dass das Auswärtige Amt eine Antwort auf die Frage der NachDenkSeiten, wie die Bundesregierung es begründet, dass man gegen den niederländischen Vorschlag gestimmt hat, mit dem Verweis darauf verweigert, dass Abstimmungen im EU-Außenrat vertraulich seien: „Ich kann Ihre Prämisse, wie wir uns da abstimmungsmäßig verhalten hätten, nicht bestätigen. Herr Warweg, die Abstimmungen und Gespräche im EU-Außenrat sind vertraulich.“ Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 21. Mai 2025 Frage Towfigh Nia (freier Journalist) (zum Nahostkonflikt) Herr Wagner, der israelische Finanzminister hat sich dahingehend geäußert, dass alles in Gaza zerstört werden wird und dass die Welt das nicht stoppen kann. Ich bitte um eine Reaktion dazu. Wagner (AA) Herr Towfigh Nia, danke für die Frage. – Wir haben in der Vergangenheit ja schon Äußerungen bestimmter israelischer Kabinettsmitglieder zurückgewiesen, wenn sie für den Friedensprozess und für eine politische Lösung dieses Konflikts nicht hilfreich sind. Ich glaube, in diese Kategorie fällt auch dieses Statement. Frage Towfigh Nia Das ist schon fast eine Völkermordansage. Verurteilt die Bundesregierung diese Äußerung? Wagner (AA) Ich habe doch gerade sehr klar gesagt, was wir davon halten. Es ist eine nicht hilfreiche Aussage, und natürlich muss sich Israel bei seinem Vorgehen im Kampf gegen die Hamas und bei seinem Vorgehen im Gazastreifen an humanitäres Völkerrecht halten. Frage Fried Herr Kornelius, trifft es zu, dass die Staats- und Regierungschefs der drei Staaten, die Israel jetzt sehr scharf kritisiert haben, nämlich Frankreich, Großbritannien und Kanada, dies vorher der Bundesregierung nicht angekündigt haben, obwohl der Bundeskanzler wiederholt mit Herrn Macron zu tun hatte? Regierungssprecher Kornelius Das Statement von Frankreich, Großbritannien und Kanada wurde unter diesen drei Nationen abgesprochen. Natürlich wurde auch unter den jeweiligen Regierungschefs über das Thema gesprochen. Es gab aber keine Notwendigkeit, da einen Ausgleich oder eine Koordinierung zu suchen. Die Bundesregierung hat ihre Position zur Militäroffensive sehr klar deutlich gemacht. Diese Offensive besorgt uns wirklich sehr. Der Bundeskanzler hat bei verschiedenen Gelegenheiten und vor allem in seiner Regierungserklärung darauf hingewiesen, dass er in großer Sorge über die humanitäre Lage in Gaza ist. Das hat er auch heute im Kabinett noch einmal sehr deutlich gemacht. Er ist auch im engen Austausch mit den europäischen Partnern darüber, um das in geeigneter Form auch noch einmal Israel zu vermitteln. Vieles, was in diesem Statement angesprochen wurde, wurde auch hier immer angesprochen, wurde vonseiten der Bundesregierung angesprochen. Ich glaube, man muss jetzt nicht sozusagen nach einer Formateinheitlichkeit suchen, um den Kern der Botschaft bzw. die Parallelität der Botschaft zu sehen. Ich glaube, dass da eine hohe Deckungsgleichheit besteht. Es ist für die Bundesregierung immer wichtig, dass sie ihre Kommunikationswege zur israelischen Regierung offenhält und ihre Punkte auch direkt anbringen kann. Das ist auch durch den Besuch des Außenministers – am vorletzten Wochenende war es, glaube ich – geschehen. Es ist natürlich auch das Ziel der Bundesregierung, im EU-Kreis weiter diese Abstimmungen zu suchen. Auch diesbezüglich gibt es momentan Vorstöße auf Brüsseler Ebene. Seien Sie versichert, dass die Bundesregierung sich an diesen Abstimmungen intensiv beteiligt. Zusatzfrage Fried Es gab gestern den Vorstoß der Niederlande, man sollte überprüfen, ob sich Israel eigentlich noch an das Partnerschafts- und Wirtschaftsabkommen hält. Wenn ich richtig informiert bin, sind 22 EU-Staaten dafür. Gehört Deutschland dazu, Herr Wagner, oder wo positionieren wir uns da? Wagner (AA) Mit Blick auf die humanitäre Lage in Gaza haben wir immer wieder gesagt – das hat Herr Kornelius eben auch zum Ausdruck gebracht -, dass sich ernsthafte Fragen stellen. Es ist doch auch klar, dass das regelmäßig Thema im EU-Außenrat ist, so eben auch gestern. Wir sind überzeugt – das hat Herr Kornelius eben auch gesagt -, dass wir derartige Fragen im Dialog mit der israelischen Regierung beantworten müssen. Aus Sicht der Bundesregierung ist das EU-Israel-Assoziierungsabkommen ein wichtiges Forum, um auch diese kritischen Fragen zu erörtern und zu besprechen, und es sollte in diesem Sinne genutzt werden. Was Ihre konkrete Frage zum Abstimmungsverhalten betrifft: Die Gespräche, die dazu im EU-Außenrat liefen, sind natürlich vertraulich. Frage Dr. Rinke (Reuters) Herr Kornelius, direkt daran anknüpfend: In der Ukraine-Debatte wird von der Bundesregierung die Notwendigkeit der Einheit unter den EU-Regierungen stark betont. Warum ist das hier bei Israel eigentlich nicht der Fall? Es wurde eben schon darauf hingewiesen, dass die große Mehrzahl der EU-Länder mittlerweile in Richtung Sanktionen oder Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel geht. Auch Frau Kallas hat das gestern ins Gespräch gebracht. Warum ist es für die Bundesregierung bei diesem Thema anscheinend nicht das Ziel, diese europäische Einheit herzustellen? Kornelius Sie wissen, dass ich kein Freund von Krisenvergleichen bin und diese Art von geopolitischem Whataboutism eigentlich nicht anstellen möchte. Ich glaube, dass die Situation in Gaza für sich spricht. Die Bundesregierung hat sehr klar ihre große Besorgnis zum Ausdruck gebracht. Sie nutzt jetzt ihre direkten Gesprächskanäle, und sie verfolgt auch die Abstimmung im Europäischen Auswärtigen Dienst bezüglich des Partnerschaftsabkommens sehr genau und gestaltet sie auch mit. Lassen Sie sich versichert sein, dass die Abstimmungen dazu momentan laufen. Zusatzfrage Dr. Rinke Herr Wagner, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie dafür sind, dass die Gespräche im EU-Assoziierungsabkommen weitergehen und nicht ausgesetzt werden sollten? Ist das die Position der Bundesregierung? Wagner (AA) Ich habe gesagt, dass aus Sicht der Bundesregierung das EU-Israel-Assoziierungsabkommen ein wichtiges Forum ist, das eben auch dazu da ist, kritische Fragen zu erörtern, und in diesem Sinne genutzt werden sollte. Lassen Sie mich zu Ihrer ersten Frage vielleicht auch noch sagen: Wir stehen in enger Abstimmung mit unseren Partnern. Sie haben vielleicht auch gesehen, dass der Außenminister gestern gemeinsam mit 21 Amtskollegen – zum Beispiel auch der E3 und der EU – die israelische Regierung aufgefordert hat, die vollständige Wiederaufnahme von Hilfslieferungen zu genehmigen und den Vereinten Nationen und humanitären Organisationen die unabhängige und unparteiische Arbeit in Gaza zu ermöglichen. Frage Jung (jung und naiv) Ich wundere mich gerade: Es ist ja bekannt, dass Deutschland in Brüssel gestern gegen die Überprüfung des Assoziierungsabkommens gestimmt hat und dass Sie das klar in der Minderheit sind und sich weiter isolieren. Auch bei der Kritik von Großbritannien, Frankreich und Kanada ist Deutschland nicht dabei, und Herr Kornelius tut gerade so, als ob das ebenfalls nicht so wäre. Was machen Sie uns hier eigentlich vor? Herr Wagner, ich habe in den letzten zwei Tagen auch keine Kritik daran gehört, dass Israel am Ende nur neun Lkw nach Gaza hineingelassen hat, obwohl Sie ja selber sagen, pro Tag seien 600 Lkw notwendig. Warum gab es auch dazu nichts? Wagner (AA) Ich weise zurück, Herr Jung, dass es dazu nichts gab. Wir stehen in einem engen Austausch mit der israelischen Regierung, und es ist doch völlig klar, dass die bisherigen Hilfslieferungen viel, viel zu wenig sind, dem Bedarf nicht entsprechen und dass sehr viel mehr rein muss. Vor allem müssen auch die Vereinten Nationen und die humanitären Organisationen dort unabhängig arbeiten dürfen. Zu Ihrer ersten Bemerkung: Es tut mir leid, aber ich war, glaube ich, sehr transparent. Ich habe ja dargelegt, was die Position der Bundesregierung ist. Es ist doch vollkommen unstrittig, dass wir innerhalb der EU immer wieder unsere Position diskutieren und angleichen, und natürlich gibt es auf manches einen etwas unterschiedlichen Blick. Zu der Frage des EU-Israel-Assoziierungsabkommens haben wir aber eine sehr klare Position. Die haben wir dort auch deutlich gemacht und die werden wir dort auch weiter einbringen. Am Ende eint uns alle in der EU aber, glaube ich, dasselbe Ziel: Es geht darum, eine Lösung für diesen Konflikt in Gaza zu finden, es geht darum, eine Lösung für das Leid der Menschen in Gaza zu finden, mehr humanitäre Hilfe hineinzubekommen, die Geiseln freizubekommen und endlich in einen politischen Prozess zu kommen, der eine nachhaltige Lösung des Nahostkonflikts ermöglicht. Das ist eben hochkomplex und schwierig. Ich weiß, das Leid ist grenzenlos und das frustriert uns alle – es frustriert Sie, es frustriert uns -; aber es geht doch darum, konkrete Dinge zu erreichen. Insofern sind diese ersten Lieferungen durch die israelische Regierung ein guter, wichtiger, richtiger Schritt, und das haben wir hier auch unterstrichen. Es ist aber vollkommen klar, dass sehr viel mehr hineinkommen muss. Frage Warweg Noch einmal auf den niederländischen Vorschlag zurückkommend: Die Niederländer hatten ja lediglich eingefordert bzw. vorgeschlagen, dass man überprüft, ob Israel mit seinem Vorgehen in Gaza gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen gemäß Artikel 2 des EU-Israel-Assoziierungsabkommens verstößt. Ihre Antwort dazu hat sich mir immer noch nicht erschlossen. Wieso hat Deutschland als eines der ganz wenigen Länder gegen diesen niederländischen Vorschlag gestimmt. Wagner (AA) Ich kann Ihre Prämisse, wie wir uns da abstimmungsmäßig verhalten hätten, nicht bestätigen. Ich habe jetzt zweimal dargelegt, wie die deutsche Position zum deutsch-israelischen Assoziierungsabkommen ist, und darauf verweise ich noch einmal. Frage Warweg Aber entschuldigen Sie, Herr Wagner – das hat auch der Kollege schon angesprochen -, das Abstimmungsverhalten der EU-Länder ist presseöffentlich. Sie können doch nicht sagen, dass Sie das nicht sagen, wenn bereits bei Euronews und Reuters öffentlich einsehbar ist, wie Deutschland abgestimmt hat. Ich glaube schon, dass Sie uns da eine Begründung geben können, wieso man sich sogar gegen eine Überprüfung von Menschenrechtsverletzungen im Zuge des Assoziierungsabkommens stellt. Das sollten Sie in der deutschen Öffentlichkeit schon begründen können. Wagner (AA) Herr Warweg, die Abstimmungen und Gespräche im EU-Außenrat sind vertraulich. Es mag Presseberichte darüber geben, was dort besprochen wird. Darüber zu berichten, steht Ihnen ja frei, und das ist auch Ihre Arbeit. Es gibt eine Position der Bundesregierung, wie wir zum EU-Israel-Assoziierungsabkommen stehen. Wir finden, das ist ein Forum, das man nutzen muss, um eben auch kritische Fragen zu stellen. Wir haben im Übrigen eine Menge Fragen zur völkerrechtlichen Situation in Gaza, die wir hier auch immer wieder darbieten und Ihnen erläutern. Insofern, glaube ich, ist Ihre Frage beantwortet worden. Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 21.05.2025 Mehr zum Thema: Wieso lässt Merz ein Bild der 1948 ethnisch gesäuberten „Zikim Beach“ im Kanzleramt aufhängen? „Halten wir für haltlos“ – Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen Gaza vor dem IGH und die Arroganz der Bundesregierung Vogel-Strauß-Taktik der Bundesregierung: Von Deutschland gelieferte Kriegswaffen im Einsatz gegen zivile Ziele in Gaza Historische Bundespressekonferenz: „Deutschland muss sich als Mittäter an den Reparationszahlungen für Gaza beteiligen“
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